Auf der Reeperbahn nachts

Auf der Reeperbahn fängt das Nachtleben erst zu vorgerückter Stunde an. Wir sind in der unmittelbaren Nachbarschaft der Davidwache. Die Location gleich neben dem “Schmidt’s Tivoli” heißt “Angie’s Nightclub”. Hier kann man sich entspannen, schauen, tanzen - wenn man mag - ohne sich in greller Beleuchtung zu präsentieren.

Man betritt ein repräsentatives, dezent heruntergekommenes Foyer mit hohen Decken, Stuck und allerlei Zierat aus der Zeit der vorletzten Jahrhundertwende. Eine breite, teppichbelegte Treppe, die man eher in einem Schloss vermutete als auf St. Pauli, bestimmt das Parterre. Die Stufen führen zur Beletage. Auch hier der schäbige Charme morbider Havanna-Dekadenz.

Man findet sich wieder im Saal einer Tanzbar, die das ganze Stockwerk einnimmt. An der Längsseite erstreckt sich eine Bar, deren Hintergrund des Angebots an Getränken wegen hell erleuchtet ist. Alles andere ist in dezentes Dunkel getaucht. Die Tanzfläche ist intim. Man blickt in Spiegel, die irritierende Bilder erzeugen. Sesselgruppen umstehen die Tanzfläche. Die Tiefe des Raumes lässt sich schwer ermessen, er ist umso unerforschlicher, je tiefer man gelangt, je mehr man sich den geheimnisvollen Ecken nähert. Die Bar ist umlagert. Das Publikum ist nicht jung, aber betucht. Die Stimmung ist gedämpft und entspannt. Die Lifesängerin singt einen eleganten, gefälligen Jazz. Dazwischen erklingt Musik vom Band, die die Atmosphäre unterlegt. Sade vielleicht.

Es wird eng getanzt. Der Platz auf der Tanzfläche ließe kaum anderes zu. Auch die Beleuchtung, die schummrige, rät eher zum Haltsuchen. Es ist die Gelegenheit, sich in der Öffentlichkeit lasziv zu zeigen. Schmiegen, Schmusen, herausfordernde Bewegungen und prüfende Berührungen sind ein Teil der Szene. Niemand nimmt Notiz von unterdrückter Leidenschaft, von dezenter Provokation. Huren jedoch, auf St. Pauli traditionell zu Hause, müssten sich, falls sie denn hier ihrem Gewerbe nachgingen, zurückhaltend und angepasst geben.

Gunhild Simon
12.06.2008

alle    deutsche Sprache    Gunhild Simon    Startseite(__index)