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Auszubildender oder Lehrling?

Heute geht man nicht mehr in die Lehre, man macht eine Ausbildung. Deshalb gibt es keine Lehrlinge mehr. Sie heißen jetzt korrekt Auszubildender oder Auszubildende. Und weil diese hochtrabende grammatische Form unaussprechlich ist, ist der abgekürzte Titel Azubi geschaffen worden. Der ist nicht minder sperrig und klingt so unbeholfen wie Zivi, Zivildienstleistender, oder Stuffz, Stabsunteroffizier.

Das Wort Lehrling hat die Endsilbe -ling. Das ist ein substantivisches Suffix, ein Wortbildungsmittel, das nur maskuline Zusammensetzungen produziert. Es begegnet uns in den alltäglichsten Begriffen [1]: Frühling, Liebling, Flüchtling oder Schmetterling [2]. Dazu in vielen Pilznamen - Ritterling, Pfifferling oder Täubling.

Gemeinsam ist allen, dass sie etwas ausdrücken über die Art, Beschaffenheit, Verwendung oder das Tun eines beliebigen Subjekts, sei es Mensch, Tier oder Ding. Ein weiteres Merkmal ist das Fehlen eines eindeutigen weiblichen Pendants. Es gibt aus sprachlicher Sicht also nur männliche Nestlinge, Frischlinge, Engerlinge oder Stichlinge. Hier liegen möglicherweise Gründe, diese Nachsilbe als undifferenziert und herabsetzend - also nicht der Political Correctness gemäß - zu interpretieren.

Bei genauerer Betrachtung erkennt man, dass die Art der Zusammensetzung variiert. Während einige einen substantivischen Bestandteil haben, der als Vergleich zu verstehen ist, zum Beispiel ist ein Däumling klein wie ein Daumen, der Fäustling genauso geformt wie die Faust, sagen andere durch einen adjektivischen Teil etwas über Aussehen und Wesen aus: Weichling, Bitterling, Grünling.

Die dritte Gruppe, zu der man auch Lehrling zählen kann, hat einen Verb-Anteil, wenn man “lehren” zugrundelegt. Darin drückt sich also ein Tun aus. Dieses Tun ist jedoch kein aktives, sondern ein passives: Der Säugling wird gesäugt, der Liebling geliebt, der Häftling wird in Haft festgesetzt, der Zögling wird (heran)gezogen, der Findling wird (wegen seiner Größe) gefunden.

So verstanden wird auch der Lehrling unterwiesen, gelehrt, belehrt, ausgebildet.

Auszubildender ist seinem Wesen nach ein Gerundivum, eine im Deutschen schwerfällige grammatische Form. Das Gerundivum [3] drückt ein passives, auf die Zukunft gerichtetes Geschehen aus: Der Auszubildende wird ausgebildet, ist also in der Ausbildung. Überträgt man nun diese Vorstellung auf den Lehrling, so ergibt sich, dass er sich in einem Lehr- und Lernprozess befindet. Er lernt die Inhalte seines Berufs, bis er “ausgelernt hat”, sich die beruflichen Fertigkeiten angeeignet hat.

Eigenartigerweise hat die Lehre, die ein junger Mensch als Lehrjahre durchläuft, ein soviel geringeres Prestige, als die Lehre, die im Wissenschaftsbetrieb der Forschung gegenübersteht.

Mit Lehre war der Begriff Lehrjunge, “Stift”, verbunden - ähnlich Lehrmädchen, “Mädchen für alles”. Heute beginnen junge Menschen ihre Berufsausbildung später als in früheren Zeiten. Dem sollte offenbar durch ein umfassenderes Wort Rechnung getragen werden. Ausbildung hat einen Wortanteil “Bildung”. Dies ist eine Verpflichtung, die Ernst und Verantwortung des Berufslebens deutlicher einschließt. Der damit verbundene Titel Auszubildender ist jedoch eine verunglückte Wortschöpfung, die man im Zusammenhang besser umschrieben ausdrückt: Er macht eine Ausbildung als … , er wird ausgebildet zum … .

[1] Schädling, Rohling, Wüstling, Schwächling, Eindringling, Silberling, Neuling, Fremdling, Setzling, Sprössling, Keimling, Backling, Bratling, Nestling, Tragling, Mietling, Sendling, Günstling, Pflegling, Prüfling, Jährling, Steckling, Fingerling, Füßling etc.

Pilze, die ihrerseits Oberbegriffe sind: Winterling, Röhrling, Rübling, Egerling, Wulstling, Saftling, Fälbling, Schwindling, Häubling, Träuschling etc.

[2] Das Wort Schmetterling hat eine eigenwillige Etymologie. Sinngemäß ist es mit dem englischen butterfly, altenglisch butterflege, Butterfliege verwandt. Dieser Name beruht auf der mittelalterlichen Vorstellung, Hexen flögen in Schmetterlingsgestalt, um Milch und Sahne zu stehlen - daher auch der im Mittelalter übliche Name “Molkendieb” oder “Buttervogel” für den Schmetterling. “Schmetten” ist ein dem Tschechischen smetana, Sahne, verwandter Name für Rahm, Schmandt.

[3] blog.institut1: Latein für Gelassene - Gerundium und Gerundivum

Gunhild Simon
15.12.2008

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