Thumulla.com

Darwin – und was dann?

Es gab schon einige Versuche zur Verallgemeinerung der Evolutionstheorie. Das Problem ist, einen Ansatz zu finden, der so allgemein und grundlegend ist, daß er zu diesem Vorhaben taugt. Die Aspekte der Informationstransporte und der Entwicklung der Steuerung scheinen diese Bedingung zu erfüllen.

Die Erfolge der Theorie der natürlichen und künstlichen Selektion sind überwältigend – aber zu einer durchgängigen Erklärung der Lebensvorgänge und einem Verständnis gesellschaftlicher Entwicklungen fehlt noch viel.

Ich möchte hier kurz skizzieren, wie eine allgemeinere Auffassung von Entwicklungsvorgängen aussehen könnte und welche Vorteile sich daraus ergeben würden.

Das die unbelebte Welt beherrschende Entropieprinzip setzt sich offensichtlich auch in der belebten Welt fort. Lebensvorgänge können nicht gegen physische Grundzusammenhänge verstoßen – und tun dies auch nicht. Lebensvorgänge sind ordnende Vorgänge, sie sind Widerstand gegen das allgegenwärtige Wirken der Entropiezunahme. Diese ordnende Funktion können sie nur ausführen, wenn Energie zur Verfügung steht, die die geordneten Strukturen erhält. Der Widerstand gegen die Entropiezunahme ist immer nur ein lokaler, die Entropie des Gesamtsystems steigt dann um so stärker.

Die Entstehung des Lebens, der Aufbau von Strukturen, die Energie umsetzen, sich fortpflanzen und weiterentwickeln, ist offensichtlich ein Prozeß des Aufbaus einer Ordnung, der Aufnahme von Information.

Wie kommt nun diese Information in die sich entwickelnden Strukturen? Wo kommt sie her und wo geht sie hin? Sieht man sich den Selektionsprozeß genauer an, so entspricht er dem, was allgemein als Optimierung bekannt ist. Die Systemeigenschaften werden solange verändert, bis sie lokalen Extremwerten einer Zielfunktion entsprechen. Diese Zielfunktion liegt in einem mehrdimensionalen Raum, dem Zustandsraum. Jede Dimension dieses Raumes repräsentiert eine Systemeigenschaft. Der Selektionsprozeß, ein Optimierungsprozeß, transportiert somit die Struktur der Zielfunktion in das System. Es findet ein Informationstransport von der Quelle, im folgenden als Entwicklungskriterium bezeichnet, zur Senke, dem sich entwickelnden System, statt.
Dieser Informationstransport kommt offensichtlich nur durch das Optimierungsverfahren zustande, welches die Suche nach einem günstigeren Systemzustand vornimmt.

Wie könnte nun dieser Informationstransport im Laufe der Evolution effektiver geworden sein? Der Prozeß der natürlichen Selektion hat zwei Stützen, erstens die Variation des Systems und zweitens das Auswahlkriterium, das die Information bereitstellt.
Betrachten wir zuerst die Variation der auszuwählenden Systeme. Bei der Variation entstehen die leichten Systemabweichungen, die vom Auswahlkriterium beurteilt und selektiert werden. Sollte es nun einen Übergang von passiver zu aktiver Anpassung geben, wie es die Evolution der Organismen als informationsaufnehmender Prozeß suggeriert, so wäre der Stützpfeiler der Variation ein Angriffspunkt. Wenn ein System den Vorgang der Variationserzeugung selbst übernehmen könnte, dann wäre die Schwelle von der passiven zur aktiven Anpassung überschritten – das System würde aktiv in seinen Anpassungsprozeß eingreifen können. Die Frage, die sich in klassischer Auffassung der Evolutionstheorie stellt, ist die Frage nach dem evolutionären Vorteil. Diese Frage kann mit der schnelleren Anpassung beantwortet werden. Wer seine Varianten selbst erzeugen kann, der kann bestimmen, wann Varianten erzeugt werden und wie stark die erzeugten Abweichungen sind. Sieht man sich die unten genannten Links an, so zeigt sich, daß es einen evolutionären Vorteil bei der Übernahme der Variation und dem aktiven Eingriff in den eigenen Anpassungsprozeß gibt.

Diese Übernahme der Variation klingt etwas zu theoretisch. Bei E. Coli Bakterien fanden die Biologen Patricia Foster und Jill Layton einen solchen Mechanismus. E. Coli Bakterien kopieren ihre DNS mit den Polymerasen I, II und III sehr fehlerarm. In Reserve stehen die Polymerasen IV und V, die fehlerträchtig kopieren und damit die Variationsbreite erhöhen. Im Streßfall schaltet das Streßprotein Sigma-38 von der standardmäßigen Replikation durch die Polymerasen I, II und III auf die Polymerase IV. Die Variationsbreite erhöht sich unter Streß und die Chancen zum Überleben der Art erhöhen sich. Es existiert also ein Mechanismus, der abhängig von den Lebensbedingungen zwischen kleiner und großer Variationsbreite schaltet. Da auch das Rückschalten ohne Streß auf fehlerarmes Kopieren, Systemstabilität im Optimum, sinnvoll ist, stellt die Errungenschaft dieses Schalters einen evolutionären Vorteil dar. Eine Forderung an das System, die ihm vorher selektiv vermittelt wurde, wird jetzt von ihm aktiv ausgeführt.
E. Coli: newsinfo.iu.edu/news

Flagellaten und Hefen schalten ebenfalls bei schlechten Lebensbedingungen von ungeschlechtlicher auf geschlechtliche Vermehrung um. Hefen: welt.de
web.archive.org_welt.de

Siehe auch: heise.de

Wie sieht es mit dem zweiten Stützpfeiler der Optimierung per Selektion, der Auswahl geeigneter Systemzustände, aus? Kann ein Lebewesen auf seine Lebensumstände aktiv einwirken, so erhöhen sich seine Überlebenschancen und die seiner Nachkommen. Eine der ersten großen Errungenschaften ist die Fähigkeit, sich bewegen zu können. Die Bewegungsfähigkeit ist aus kybernetischer Sicht ebenso eine Verschiebung im Zustandsraum, wie die Änderung der Systemstruktur. In diesem Zustandsraum kommt es für das System darauf an, das lokale Optimum zu finden. Das Individuum ist auf das angewiesen, was es an Struktur ererbt hat. Die Fähigkeit, sich in diesem Zustandsraum aktiv bewegen zu können, schließt die Fähigkeit zur räumlichen Bewegung und die Fähigkeit, die eigene Struktur anpassen zu können, ein.

Wer sich in dem Zustandsraum aktiv bewegen will, der muß sich darin orientieren können. Der Angriff auf den zweiten Stützpfeiler der Optimierung ist untrennbar mit diesem wesentlichen Fakt verbunden. Ohne die Richtung zu kennen, wird es keine zielgerichtete Bewegung geben. Der Ort des Optimums, das Ziel der Bewegung, die zuerst passiv erfolgte, muß bekannt sein. Bliebe zu klären, woher das System Information über den Ort des Optimums erhält.

In der ersten Stufe des Überganges von passiver zu aktiver Anpassung kann, wie oben schon gezeigt, die Variation von Systemzuständen stehen. Auf ein Individuum bezogen hieße das, daß es durch Probieren seinen Zustand zu optimieren versucht. Nun ist dem Individuum das eigene Überleben wichtiger als das Überleben der Art. Eine Rückkopplung über die Überlebenswahrscheinlichkeit scheidet für das Individuum also aus. Es ist auf eine andere Art der Rückkopplung angewiesen. Sensoren liefern jetzt eine Rückmeldung der Umwelteinflüsse zum Individuum. Das Individuum kann den Erfolg seiner Strukturänderungen oder Ortsveränderungen beurteilen und hat die Rückkopplung der Optimierung, die die natürliche Selektion vornahm, jetzt selbst übernommen. Die erste Stufe ist also ein Probieren mit Sensorrückmeldung.

Im weiteren Verlauf sammeln sich Erfahrungen an. Das Probieren mit Sensorrückmeldung wird durch Lernen ergänzt. Günstige Systemzustände werden gemerkt. Es bildet sich ein Abbild, ein Modell der Umwelt. Anhand dieser gelernten Zusammenhänge kann die aktive Suche nach günstigen Systemzuständen gezielt erfolgen. Beispielsweise wäre eine Suchstrategie nach Nahrung, die Probieren mit Sensorrückmeldung benutzt, ein zufälliges Einschlagen einer Bewegungsrichtung mit einem Umkehren, wenn die Nahrung abnimmt.

Von der Qualität der sensorischen Rückmeldung abhängig sind verschiedene Suchstrategien möglich. Eine hochentwickelte Rückkopplung erlaubt es, dem Gradientenabfall direkt zu folgen und somit den kürzesten Weg zum Optimum zu finden.

Das Modell der Umwelt, das sich langsam als Summe aller lern- und anpassungsfähigen Funktionen bildet, bestimmt das Verhalten des Systems. Dieses Modell speichert vorteilhafte Verhaltensweisen und stellt sie auf Abruf zur Verfügung. Im weiteren Verlaufe des Aufbaus dieses Modells werden die gespeicherten Zusammenhänge abstrahiert. Die Abstraktion bietet den Vorteil effektiverer Speicherung und die Möglichkeit, auf Zustände, über die bisher keine Erfahrung vorliegt, extrapolieren zu können.

Für diese Voraussage ist es vorteilhaft, wenn das eigene Sein im Modell widergespiegelt wird. Das Modell wird also im Laufe seiner Perfektionierung auch die eigene Stellung des Systems in der Welt wiedergeben – ein Bewußtsein beginnt sich zu entwickeln.

Ein hoch entwickeltes Modell der Umwelt und eine Vorstellung von günstigen Lebensbedingungen lassen das System Funktion für Funktion zur Aktion schreiten. Das System beginnt die Umwelt seinen Bedürfnissen anzupassen. Der ursprüngliche Informationsfluß von der unbelebten Natur zum belebten System beginnt sich umzukehren. Das System gestaltet die Umwelt nach seinen Bedürfnissen.

Umwelt ist nicht nur unbelebte Umwelt. Beute, Partner und Konkurrenten gehören dazu. Ganze Lebensräume existieren nur, weil es andere Lebewesen gibt – denken wir an das Leben in Baumwipfeln, an Korallenriffe, an Gesellschaften, an Symbiosen oder an Parasiten. Damit eröffnet sich ein weiterer Komplex von Wechselwirkungen.

Das Aktivwerden der sich entwickelnden biologischen Systeme zieht, wie oben gezeigt, die Einflußnahme auf die Umwelt und damit auf andere Systeme nach sich. Die Interaktion zwischen Systemen erzeugt eine weitere Steigerung der Entwicklungsgeschwindigkeit und Entwicklungseffizienz. Sind Systeme in ihrer Existenz aufeinander angewiesen, so stellen sie sich gegenseitig Teile ihres Entwicklungskriteriums. So soll es eine Parallelentwicklung von Pflanzenfressergebissen und der Einlagerung von Holzstoff in Pflanzen gegeben haben. Die Pflanzen wurden auf Widerstandsfähigkeit gegen Pflanzenfresser selektiert. Sie entwickelten Dornen, Gifte und Holzstoff. Die Gebisse der Pflanzenfresser entwickelten stärkere Mahlzähne. Solche gegenseitigen Beeinflussungen sind Autobahnen der Entwicklung. Ein System paßt sich den Bedingungen an, es bewegt sich langsam zum Optimum. Das andere System tut dies ebenfalls und bewegt dadurch das Optimum weg. Dieses gegenseitige Anspornen zu mehr Leistung hört lange Zeit nicht auf. Die Systeme stellen sich gegenseitig einen Teil ihres Entwicklungskriteriums. Es findet eine Entwicklung in der Auseinandersetzung von Systemen miteinander statt, obwohl die Systeme nicht bewußt miteinander kämpfen. Bei bisher betrachteter Optimierung nahm das Potential, der Entwicklungsdruck, mit der Annäherung an das Optimum ab. In diesem Falle wird durch die Reaktion des anderen Systems der Druck aufrechterhalten. Wenn die Entwicklungsgeschwindigkeit vom Potentialgefälle abhängig ist, was anzunehmen ist, dann wird diese im letzteren Fall nicht abnehmen.

Allgemein können Trends in der Entwicklung beobachtet werden. Systeme, die effizienter mit der ihnen zur Verfügung stehenden Energie umgehen, sind anderen gegenüber im Vorteil. Systeme, die sich aktiv zum Optimum im Zustandsraum bewegen können, sind im Vorteil, weil sie vor den anderen angepaßt sind. Systeme, die in mehreren Dimensionen des Zustandsraumes Bewegungsfreiheit gewonnen haben, aktiv sind, sind im Vorteil und ihre Überlebenswahrscheinlichkeit ist höher als die anderer. Systeme, die über einen hierarchischen Aufbau verfügen und schnelle essentielle Funktionen auf niedriger und komplexe Funktionen auf höherer Ebene ausführen, haben Vorteile. Systeme, die aufgenommene Information abstrahieren können und so effizienter mit ihrem Speicher umgehen und Zustände und Reaktionen ihrer Umwelt voraussehen können, sind bevorzugt.

Diese Beschreibung der Evolutionstheorie aus informationstheoretischer Sicht kann die klassische Evolutionstheorie erweitern und eine Brücke zur Kybernetik schlagen. Betrachtet man die Evolution der Lebewesen und die Evolutionstheorie aus dem Blickwinkel der möglichen Mechanismen einer Informationsaufnahme, dann sieht man die Probleme aus einer neuen Perspektive, einer Perspektive, die die rein biologische Betrachtung bisher nicht hatte und die zu einer Einheitlichkeit der Naturwissenschaften beiträgt.

Die klassische Frage der Evolutionstheorie ist die Frage nach dem Überlebensvorteil. Diese Frage wird in einer erweiterten Evolutionstheorie um die Fragen nach der Art der Informationsaufnahme und der Richtung des Informationsflusses ergänzt werden. Künftig werden nur Betrachtungsweisen akzeptiert, die für biologische, gesellschaftliche und technische Systeme gelten. Nur durch Konzentration auf die Gemeinsamkeiten ist ein Erkennen der abstraktesten Zusammenhänge möglich.

Was hat nun ein Bügeleisen mit einem Einzeller gemeinsam?
Auf dem Einzeller lastet ein Entwicklungsdruck, dem dieser auszuweichen sucht, indem er sich, als sich fortpflanzendes System gesehen, anpaßt. Das System nimmt Information über die ihm gestellten Bedingungen in seine Stammesentwicklung auf. Er wird es erreichen, sich in einigen Dimensionen aktiv bewegen zu können, sich einigen Aufgaben aktiv anzupassen. Paßt ein System ein anderes, in diesem Fall technisches, seinen Bedürfnissen an, dann gelten wieder die oben genannten allgemeinen Entwicklungskriterien. So projiziert der Konstrukteur die Bedingungen für einen erfolgreichen Verkauf in sein Produkt. Die Quelle der Information, wie ein Bügeleisen auszusehen hat, ist der Verbraucher – meist. Der Konstrukteur paßt die Form seines Produktes zuerst durch Versuch und Irrtum und später durch die gewonnenen Erfahrungen an die Wünsche der Kunden, das Kriterium, an. Die Eisen wurden früher auf dem Ofen erhitzt. Da das sehr unpraktisch war, wurden Eisen gebaut, in die man glühende Kohlen legen konnte. Das erhöhte die Effizienz des Gerätes. Das Kriterium der Effizienz ist also implizit immer enthalten, auch wenn wir es oft in den Konstruktionsanforderungen nicht nennen können. Später kamen einfache elektrische Geräte auf, die, als sie einen Regler erhielten, die Hausfrau von der Sorge um die Temperatur entlasteten. Eine Funktion des gesamten Systems wanderte in die Peripherie und die Zentrale wurde um diese Funktion entlastet. Zentral wird nur noch die Art des Stoffes, und damit die Solltemperatur, vorgegeben – bis die Entwicklung von Sensoren für Textilien diese Funktion auch dem Bügeleisen ermöglicht.
Es gilt zu erkennen, daß die Beschreibung von Entwicklungsvorgängen gut funktioniert, wenn man den Informationsfluß und seine Quelle, das Kriterium, einerseits, und die Art und Weise des Transportes der Information andererseits betrachtet.
Auch Einzeller haben Kaskaden von Regelmechanismen entwickelt. Auch sie bezogen die Information, die die Ordnung in ihnen generierte, aus den Überlebensbedingungen. Es gab aber keinen Konstrukteur, der Einzeller gebaut hat. Der Prozeß der natürlichen Zuchtwahl transportierte die Information und verbesserte sein Produkt ständig. Indem er dieses verbesserte, verbesserte er sich selbst. Die Entwicklungskriterien gelten nicht nur für sein Produkt, sie gelten auch für ihn. Die natürliche Zuchtwahl wurde durch aktive Übernahme von Information, aktives Anpassen und Lernen ergänzt. Sie wurde durch Aktion und Konstruktion, Eingriffe in die Umwelt, und die Auseinandersetzung aktiver Systeme, den Kampf der Systeme, ergänzt.

Der Evolutionsprozeß richtet sich auf sich selbst, wie oben angedeutet; er ist ein rekursiver, selbstreferentieller Prozeß. Er projiziert damit das, was ihn antreibt, in sein Produkt, das Leben. Das Leben nimmt Information aus der Umwelt und dem es erzeugenden Prozeß auf. Es kann damit den es erzeugenden Prozeß an Komplexität übertreffen und ihn letztlich verstehen. Es versteht, daß ein einfacher Abbau von Energie den Antrieb zur Akkumulation von Information beinhalten kann. Das Leben wird sich weiterentwickeln und die Entwicklungsprozesse der Gesellschaft und der Technik werden eines Tages dominieren, denn sie laufen dann wesentlich schneller ab als die des einzelnen Menschen. Letztlich führen diese Entwicklungen das fort, was rein biologisch begann. Technische Systeme und Gesellschaften technischer Systeme werden die weitere Entwicklung bestimmen. Was bleibt sind die grundlegenden Regeln der Evolution, die von Robotern, die diese dann beherrschen werden, durch das All getragen werden und überall wieder keimen können.

Carsten Thumulla, Dezember 2005 http://thumulla.com Download PDF 54kByte darwin_ und_was_dann.pdf

alle    Allgemeine_Entwicklungstheorie    Information    Startseite(__index)



Thumulla.com    Startseite der Artikel    Links und Werbung    Diskussion    Suche auf dieser Seite