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Das Kind .– ein unbekanntes Wesen?

Kinder können uns fremd sein, gleichwohl unser eigen Fleisch und Blut. Das muss man so annehmen. Kinder können uns anrühren, mehr als andere Wesen. Das ist etwas Ursprüngliches. Man nennt das in der Verhaltensbiologie »Kindchenschema«.

Kinder – und auch pflegebedürftige Jungtiere, besonders die sogenannten Nesthocker – erzeugen nämlich einen Pflegetrieb durch ein rundes Gesichtchen, eine helle Stimme, eine zarte Pfirsichhaut, schmeichelnde Seidenlocken und einen wunderbaren Duft. Sie lassen einem das Herz aufgehen – besonders wenn sie schlafen oder frisch gewaschen, gekämmt und gekleidet sind.

Und wenn man sich nicht gerade selbst als Erzieher an einem wickelbedürftigen, hungrigen, durstigen, müden oder vernunftresisteten Exemplar beweisen muss. Denn manchmal können sie zu Quälgeistern mutieren, die einen, besonders in der Öffentlichkeit aufs Peinlichste zu exponieren wissen, einen gar bestechlich oder erpressbar machen, kurz: an den Rand eines Nervenzusammenbruchs treiben können. Kinder vertragen nämlich, je kleiner sie sind, keinen Aufschub ihrer Bedürfnisse – und hier gibt es auch gar keine Erziehungsbedarf. Aber wenn sie größer werden, erspüren sie seismographisch die Schwachstellen der Erwachsenen. Es ist eine allgemein akzeptierte Weisheit: Kinder brauchen Grenzen. Genauso wahr ist aber auch: Kinder können uns an unsere Grenzen bringen.

Vielfältige Namen für die kleinen Wesen

Zeigt sich diese Gefühlsvielfalt auch in ihrer Bezeichnung, dem Wort Kind?

Tatsächlich haben die geläufigeren Sprachen sehr abweichende Namen dafür. Das lateinische Wort dafür ist ein Plural, liberi, die Freien – das zeugt von liberaler Gesinnung – engl. child, mit dem ungewöhnlichen Plural children, franz. enfant, span. niño, ital. fanciullo, und dem verspielt anmutenden Plural bambini. Daneben gibt es noch allerlei spezifische, mal fachsprachlich, mal zärtlich, mal abwertend auslegbare Bezeichnungen wie Baby, Säugling, Kid, Zwerg, Göre, Blage, Balg, auch dialektale, wie hessisch: Bobbelchen (von »Bobbel«, Knäuel) oder kölsch: Pänz (von vulgärfranz. panse, Pansen, Bauch).

Kindheit und Infantilität

Über den Begriff der Kindheit, lat. infantia, wollen wir uns dem Kern des Begriffes Kind annähern. Lat. infantia, franz. enfance, ital. infanzia, span. infancia, das sind die ganz einheitlichen Wörter für Kindheit. Es bedeutet eigentlich Sprachlosigkeit, abgeleitet von lat. fari, sprechen, also die Zeit des Nicht-sprechen-Könnens, des Lallens. So ist lat. infans, Kind, schlicht »lallend«. Dieses Wort ist erhalten in franz. enfant und Infant, Infantin, als Bezeichnung für den spanischen oder portugiesischen Thronfolger. Deutet Infant auf Knabe hin, so legt das Wort Infanterie für Fußtruppe eine frühere Bedeutung als Armee der Jungen, der Unausgebildeten, derer, die nicht zu den Berittenen und Vornehmen gehörten, nahe.

Kindheit und Kindlichkeit im Spiegel der Zeit

Kindheit, childhood, oder stellvertretend für den romanischen Sprachraum, infantia, »Infantilität«, wurde nicht immer als Schonfrist aufgefasst. Je nach ihrem sozialen Stand waren kindliche Lebensperspektiven klar umrissen. Das Kind war in in früheren Zeiten überwiegend Garant für Altersversorgung, unverzichtbare Hilfe in Haus- und Landwirtschaft, in Handwerk und Gewerbe, kurz, wirtschaftliche Stütze der Eltern, das wie ein kleiner Erwachsener gesehen wurde. Das war auch nicht abwegig, denn alles scheinbar absichtslose Kinderspiel nimmt im Grunde nachahmend und einübend Vorbilder erwachsenen Verhaltens auf.

Kindliche Handgeschicklichkeit, körperliche Gewandtheit und jugendlicher Eifer können unter den Bedingungen von Üblichkeit, Zwang oder Motivierung wettmachen und ergänzen, was Erwachsene mit handwerklicher Kunst und Übung herstellen. Wohlfeile Kinderarbeit ist auch in unseren Tagen in großen Teilen der Welt gang und gäbe und findet in anderen seine Auftraggeber und Käufer ihrer Produkte. Dazu bedarf es nicht eines Verweises auf irische Bergwerke oder »Oliver Twist«. Denn auch moderne Textilien und Teppiche entstehen durch Kinderhand. Kindliches Gedeihen wird in Zeiten wirtschaftlicher Not weniger unter pädagogischen und psychologischen Gesichtspunkten gesehen als unter ökonomischen. Mit wirtschaftlicher Not geht oft eine hohe Kindersterblichkeit einher. Sie kann es verbieten, ein allzu enges emotionales Verhältnis zu dem Kind aufzubauen.

Das Kind im etymologischen Kontext

Das deutsche Wort Kind, mhd. kint, ist eine Substantivierung von zeugen, gebären: das Gezeugte, Geborene. Daraus ergibt sich schließlich der Zusammenhang zu engl. kind, Geschlecht, Gattung, Art. Lateinisch heißt dies genus, erkennbar in Generation, generieren (erzeugen) oder Gen (Erbgutträger), und gens, Sippe, Stamm, Geschlecht. Alle diese Wörter haben die gemeinsame indogerm. Wurzel gen-. Ferner erklärt sich so auch König, engl. king, Mann aus vornehmer Sippe, von altengl. cyn, kin, Familie, Rasse, Art.

So verzweigt die gesamte Begrifflichkeit zunächst auch erscheint, führt sie bei genauerer Betrachtung zu einer gemeinsamen Herkunft. Der Inhalt des Wortes Kind vermittelt einen historisch eher nüchternen Blick auf die Abstammung und Erzeugung des Nachwuchses.

Gunhild Simon
17. Oktober 2007

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