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Das weiße Band

“… weiße Bänder im Sonnenschein” – Zeile einer Ballade [1]. Aber damit hat der Film “Das weiße Band” nichts zu tun. Das weiße Band ist das Symbol der Unschuld und Reinheit – sichtbares und fühlbares Zeichen des Verbots der Selbstberührung.

Man schreibt das Jahr 1913 – Deutschland im wilhelminischen Kaiserreich. Es ist die Zeit unmittelbar vor dem Kriegsausbruch. Das dörfliche Leben verläuft in ruhigen Bahnen. Doch es geschehen beunruhigende Dinge, Unglücksfälle, die verharmlost und totgeschwiegen werden, die sich unabweisbar zu Verbrechen verdichten: Anschläge, Misshandlungen, Überfälle, Entführungen.

Der Schauplatz ist ein Dorf in Mecklenburg. Eine Handvoll Backsteinhäuser, straßenwärts gerichtet. Die Dorfstraße führt hinaus zu sommers wogenden Weizenfeldern und winters verschneiten Ackerflächen unter einem endlosen Himmel. Dazu gesellen sich ein achtunggebietendes Gutshaus, eine herrschaftliche kleine Barockkirche, eine Landarztpraxis, eine einklassige Dorfschule.

Die Honoratioren: der Baron, der Pastor, der Arzt. Alle Figuren sind flankiert von denen, die ihrer Rolle scheinbar Glanz und Halt geben – der Baron in seiner unerschütterlichen gesellschaftlichen Erstarrung, dessen nervöse Frau ihm aus der ländlichen Einöde davonzulaufen droht, der strenggläubig verwurzelte Pfarrer, der seine Familie in erbarmungsloser protestantischer Zucht hält, der Arzt, der seine demutsvolle Haushälterin, die Hebamme, mit verachtendem Ekel zur notdurftsmäßigen Verrichtung seiner Bedürfnisse gebraucht und heimlich seine Tochter befingert.

Was anmutete wie eine stille, nostalgische Dorfidylle – bezopfte und beschürzte Schulmädchen, Reitersleute, Einspänner, überquellende Leiterwagen, Schnitter, im Takt der Sensen schreitend, und Frauen unter Strohhüten, Garben bindend, Erntedankschmaus, Dorftanz und Gottesdienst im Sonntagsstaat,  Choräle, die die Grundfesten des Protestantismus besingen – das alles ist in Wahrheit das Abbild von Neid, Stumpfsinn und Mitleidlosigkeit.

Bosheit, Grausamkeit und Niedertracht sind menschliche Charakterzüge. Sie gedeihen in einem Klima sozialer Kälte, Gefühlsarmut und Triebunterdrückung.

Die Kinder haben es verlernt zu lächeln, zu spielen, sich zu vergnügen. Gesittet, schweigend und bekümmert stehen sie zusammen, gemessen schreiten sie einher in gemeißelter Kleider- und Haartracht.

Aufklärung der Geschehnisse ist nicht das Anliegen des Films. Die Rätselhaftigkeit ist ein Merkmal der Struktur des Film. Die scheinbar unschuldigen Kinder, in einer gnadenlosen Erwachsenenwelt kindlicher Unbeschwertheit beraubt, sind der Angelpunkt, von dem das Unheil ausgeht. Sie geben geheimbündelnd weiter, was sie erfahren und verinnerlicht haben: sich zu ducken vor der Obrigkeit, um in verdeckten Gewaltexzessen ihre aufgestauten Phantasien von Omnipotenz -  Bestrafung und Unterdrückung – gegenüber den Objekten ihres Hasses und ihrer Verachtung ungesehen zu entladen. Auch wenn sich drohend der Arm des Gesetzes in Gestalt unbeugsamer Herren in Zivil erhebt – die Maschen des Handlungsgeflechts sind zu eng geknüpft, um sich entwirren zu lassen. Die Kinder schweigen erbittert und unbewegt. Sie wissen um ihre gemeinsame und gegenseitige Verstrickung.

Am Ende steht der Kriegsausruf. Wie eine Entlastung wird er aufgenommen, wie ein Signal zum Aufatmen, wie der ersehnte Aufbruch aus der engen, festgefügten Welt. Wie eine Verkehrung steht der Krieg da, nicht Entsetzen, sondern alles überstrahlender Ausblick.

Die Geschichte entfaltet sich aus der Perspektive des Lehrers – hier noch ein junger Mann, der sich in den Gepflogenheiten seinen Weg suchen muss. Seine Stimme, die des Erzählers, ist die eines alten Mannes. Als er eingezogen wurde, hat er das Dorf verlassen und nicht wieder aufgesucht. Die Erzählung gerinnt zu dem Bild einer versunkenen Welt.

Der Erzähler ist die unverkennbar heisere Stimme Ernst Jacobis. Bekannte Namen aus der Schauspielercrew sind Ulrich Tukur als selbstherrlicher Junker, Burghart Klaußner als pietistischer Pastor, Susanne Lothar als unterwürfige Hebamme, Josef Bierbichler als grantelnder Verwalter. Die Schauspieler sind ausnahmslos überzeugend, auch wenn Namen von Kinderdarstellern schwer zu referieren sind.

Dem Regisseur Michael Haneke ist ein Film gelungen, der gerade wegen seiner Ungelöstheit den Betrachter nicht loslässt. Er gewann die Goldene Palme in Cannes und ist ein Oskar-Kandidat für den besten ausländischen Film.

[1] Lulu von Stauß und Torney: Die Tulipan

Gunhild Simon
Okt 29 2009

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