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Der Vorleser - Scham und Isolation, Schuld und Sühne

Es geht um kontroverse Moral. Ein schweres Thema.

Ende der fünfziger Jahre. Zwei Seelen finden sich. Sie gehören verschiedenen Welten an. Ein 15-jähriger Gymnasiast, isoliert in der verstörenden Phase der Pubertät, und eine 20 Jahre ältere Frau, isoliert in ihrer Verschlossenheit, verlieben sich ineinander.

Er lebt in familiärer Geborgenheit, deren Werte Freiheit, Bildung und Toleranz sind. Ihr Leben ist bestimmt von Schlichtheit und unerklärlicher Strenge. Beide haben die Macht, einander zum Staunen zu bringen: sie eröffnet ihm die Welt der Liebe, er eröffnet ihr die der klassischen Literatur. Die Liebe wird gewürzt und gefärbt durch die Literatur, die Literatur wird erfüllt und beseelt durch die Liebe. Geben und Nehmen sind Vorlesen und Liebe.

Die Affäre endet abrupt. Die Frau ist verschwunden. Ohne Erklärung, ohne Abschied. Dem Jungen bricht schier das Herz.

Jahre später begegnet er ihr unversehens wieder. Er beobachtet als Jurastudent einen Kriegsverbrecher-Prozess, wo sie sich als Mitglied einer Gruppe von KZ-Aufseherinnen wegen Mord verantworten muss.

Diesmal ist er nicht von Staunen, sondern von Entsetzen überwältigt. Hin- und hergerissen zwischen Fassungslosigkeit, Abwehr und einer Verbundenheit, die er nicht mehr rechtfertigen kann, sieht er ihre Verstrickung, deren Quelle blinder Gehorsam und unreflektierte Systemtreue ist, die sie zu mitleidloser Kälte befähigte. Und er erkennt, sie ist nicht nur Täter, sondern auch Opfer: Sie ist Analphabetin. Ein Umstand, der sie entmündigt und manipulierbar macht.

Aus Scham darüber hatte sie sich einer Beförderung durch ihr scheinbar unerklärliches Untertauchen entzogen, aus Scham darüber entsagt sie nun vor Gericht jeglicher Strafmilderung. Sie leugnet nichts und nimmt alle Schuld auf sich, während die Mittäterinnen einem gerechten Strafmaß entgehen.

Ein juristischer Aspekt drängt sich auf: das Verhältnis von Rechtsprechung und Gerechtigkeit. Gegensätzliche Rechtsauffassungen stehen einander gegenüber. Gesetzmäßigkeit und Rechtmäßigkeit berühren das Spannungsfeld zwischen Pflicht und Verantwortung, Befehlsnotstand und subjektiver Schuld.

Die Erkenntnis, eine Mörderin geliebt zu haben, geht über seine seelische Kraft. Zugleich sieht er ihre Hilflosigkeit, ihre Panik und ihre Pein. Er könnte sie in der Beweisaufnahme entlasten. Er unterlässt es. Um der Gerechtigkeit willen, für die er einstehen will? Um der ihm längst Entfremdeten willen, die entschlossen ist, ihr Gesicht zu wahren und zu büßen? Sie büßt lebenslang. Und sie büßt schließlich freiwillig ihr Leben ein.

Er hatte jeden Kontakt zu ihr vermieden. Stattdessen sprach er nächtelang Literatur für sie auf Kassetten. Ihr eintöniges Dasein wird belebt durch Literatur, mehr noch: Sie lernt Lesen und Schreiben.

Hier gehen Erzählung und Verfilmung unterschiedliche Wege. Während sie in der Romanvorlage ihre politische Vergangenheit lesend aufarbeitet, bleibt die filmische Adaption bei ihrer autodidaktischen Leistung stehen. Deshalb bleibt auch ihr Vermächtnis, ihr Erspartes einem Fonds für die Opfer von damals zukommen zu lassen, konturlos.

Es kann keine Wiedergutmachung geben. Es ist eine Schuld, die durch keine Sühne auszulöschen ist.

Es gibt keine Wendung. Die Verantwortung bleibt. Vergebung ist ausgeschlossen. Die Gesichter aller historisch Verstrickten sind unrettbar traurig, versteinert, verbittert, untröstlich.

Schließlich tut sich in der Schlussszene ein schmaler Spalt auf: Der Mann mit dem in Melancholie erstarrten Gesicht führt seine 15-jährige Tochter zu dem Grab seiner Jugendliebe. Er ist jetzt bereit, sich zu öffnen und seine Geschichte zu erzählen.

Die Komplexität der Gegenwart zu durchleuchten, gleichzeitig eine Verbindung zu knüpfen zwischen den verschachtelten Aspekten der Vergangenheit, das hat der Film sich zur Aufgabe gemacht. Mehrere Zeitebenen, deutsche Vergangenheitsepochen, durchdringen einander: das Deutschland des Nationalsozialismus, das der Nachkriegszeit, das der beginnenden Auflehnung im Zeichen der Studentenbewegung und das Deutschland des ausgehenden Jahrtausends. Während der Roman linear angelegt ist und der Erzähler das Geschehen reflektiert, durchbricht der Film diese Struktur und verbindet assoziativ das Handlungsgeflecht in fast unmerklichen anachronologischen Montagen.

Gunhild Simon
27.02.2009

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