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Deutschstunde - von den Freuden der Pflicht

Die Erzählung beginnt ganz undramatisch.

Im behäbig dahinfließenden, wortkargen Alltag Dithmarschens ist man von Krieg und nationalsozialistischem Regime scheinbar unberührt. Das ändert sich, als den Polizeiposten Jens Jepsen der Befehl erreicht, ein Malverbot an seinen alten nachbarlichen Freund, ja sogar Lebensretter aus Kindertagen, den Maler Max Nansen, zu überbringen und zu überwachen.

Damit hätte eigentlich der Auftrag sein Bewenden haben können, hätte sich der Polizist nicht stattdessen mit einem Übermaß an Pflichteifer und Gesetzestreue dieser Aufgabe gewidmet. Von nun an verselbständigen sich Pflichterfüllung und Befehlsvollstreckung. Sie werden zu seiner zentralen Lebensaufgabe.

Dieser Aufgabe opfert er all seine sozialen Beziehungen. So geschieht es, dass Starrsinnigkeit und Fanatismus, die die Aufgabe unter dem Deckmantel der Pflicht freigelegt hat, noch über den Zusammenbruch des Dritten Reiches hinaus seine Persönlichkeit deformieren und seine Handlungen bestimmen. Unter diesen Umständen - seine Ehefrau Gudrun war bereits zuvor in Beziehungsunfähigkeit, Kälte und Lieblosigkeit erstarrt, seine Kinder haben sich in die Großstadt Hamburg geflüchtet - ist die Familie endgültig zerfallen.

Siggi Jepsen, jüngster Sohn des Landpolizisten, fühlte sich aus Mangel an elterlicher Zuwendung schon immer zum Haus des Malers hingezogen, in dessen Umkreis und Gegenwart er den unnachsichtigen elterlichen Übergriffen eine Weile entging und Geborgenheit und stilles Einverständnis erfuhr.

Die Bilder des Malers waren zu einem Bestandteil seines Lebens geworden. Aus dieser naiven Perspektive erlebt der Leser, welchen Einfluss sie ausübten, welcher Sog, welche Faszination von ihnen ausging. Um diesen Eindruck nachzuvollziehen, ist es wichtig zu wissen, dass das Vorbild der literarischen Gestalt Max Nansen der Expressionist Emil Nolde gewesen ist, dessen Bilder im Nationalsozialismus in der gleichen Weise geächtet und als entartete Kunst ausgelöscht wurden. Ein Kontinuum eindeutiger Details von Nolde-Bildern begleitet die Szenen des Romans.

Während der Vater sein 10jähriges Kind zu einem Pakt der Zusammenarbeit zwingt, dem es sich in seinem Gewissenskonflikt zwischen familiärer Verpflichtung und freundschaftlicher Verbundenheit kaum entziehen kann, versucht der Sohn seinerseits, die wahnhaften Bemühungen des Vaters zu unterlaufen, indem er sich entzieht und die Bilder zu verstecken versucht. Der Vater jedoch, angetrieben durch seinen obrigkeitshörigen Pflichtwahn, spürt mit nahezu seherischer Gabe die Verstecke auf, um seinen Auftrag auszuführen.

Da erkennt man bei dem pflichtgetreuen Polizeiposten die Verzerrung seines Pflichtbewusstseins - die Freude an blindwütiger Zerstörung. Die Pflichtfreude wird zur Schadenfreude verkehrt, der Freundespflicht kommt zähnebleckende Dienstfertigkeit zuvor. Sein eifiger Wahn macht nicht halt vor Zerstörung fremden Eigentums, Brandstiftung und Waffengewalt. Während die Alliierten bereits das Land besetzen, die Kapitulation schon Realität ist, kommt es in der Stellung des selbstorganisierten Volkssturms der alten Männer zu einer bedrohlichen Eskalation zwischen den ehemaligen Freunden.

Ein Rahmen aus einer anderen Perspektive umschließt und durchwirkt das Geschehen. Diese zweite Zeitebene lässt die politische Vergangenheit wie eine absurde Epoche wiedererstehen. Siggi, als jugendlicher Delinquent in der Jugendstrafanstalt auf der Elbinsel Hahnöfer Sand [1] vor Hamburg verwahrt, sieht seiner Besserung in Gesellschaft krimineller Jugendlicher entgegen. Hier sollte er sich unterrichtlich dem Aufsatzthema “Die Freuden der Pflicht” widmen. Als ihm dies in der Erinnerung an den damit verbundenen Erinnerungsaufwand nicht gelingt, wird diese Aufgabe zu einer Strafarbeit, einer seiner Besserung dienenden Pflicht, die er gegen jedes Einlenken, ihr bereits mehr als Genüge getan zu haben, bis zu Ende ausführt.

Daraus entsteht das Bild eines gesellschaftlichen Mikrokosmos, in dessen ländlich verstreute Abgeschiedenheit die staatliche Allmacht reicht. Selbst hier noch bewirkt sie, dass man sich ihr beugt, sich verbiegt, sich gegenseitig bespitzelt, bedroht und verrät. Ein System, in dem sozialer und kultureller Halt durch Misstrauen und Feindseligkeit zerstört wird.

Siegfried Lenz: Deutschstunde. Roman, München 1973

[1] vgl. blog.institut1: Das Elbufer am Falkenstein Gunhild Simon
8.06.2009

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