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Die Sprache der Märchen

Was ist kindgerechte Sprache?

Die Sprache der Kinder ist wandelbar. Sie entwickelt sich in Windeseile - ein Spiegel ihres Bewusstseins. Sie ist leicht zu beeinflussen. Erwachsene eignen sich im Umgang mit den Kleinen oft unbedacht entgegenkommend Platitüden wie “cool”, “super”, “yep”, “ok”, selbst “geil”, an. Dabei prägen sie aus dem Missverständnis kindlicher Bedürfnisse eine undifferenzierte Weise des sprachlichen Ausdrucks, die später zu beklagen ist.

Kinder im Vorlesealter haben noch kein Register von Sprache. Es bildet sich erst heraus als ein Prozess der Abgrenzung zur Welt der Erwachsenen, wenn die Pubertät sich ankündigt. In der Phase des Spracherwerbs nehmen Kinder alle Anregungen ungefiltert, unkritisch und begierig auf. Worte aus dem Mund von Menschen sind ein Teil der ungeteilten Zuwendung, die sie für ihr Gedeihen brauchen.

Auf Hörverständnis angewiesen haben Kinder in diesem Entwicklungsabschnitt eine besondere Aufnahmebereitschaft für Sprache und ein Empfinden für das, was atmosphärisch und bildhaft ausgedrückt wird. Märchen lassen unwillkürlich eine Fülle eigener Bilder entstehen, die eigentümlich eingeprägt bleiben, wie man an sich selbst erfahren kann. Welch ein Reichtum gegenüber vorgestanzten Fernsehbildern!

Kinder haben das Bedürfnis, sich mit dem Unbekannten, den Gefahren und Unwägbarkeiten draußen in der Welt auseinandersetzen. Das gelingt im Schutz des ganz offenkundig Irrealen, aber verlässlich Gerechten der Welt der Märchen.

Manche Märchen haben grausige Einzelheiten. Da wird dem Wolf im Schlaf der Bauch aufgeschnitten und danach mit “Wackersteinen” gefüllt. Dem sprechenden Hengst “Fallada” wird der Kopf abgeschnitten und ans Stadttor genagelt, von wo aus er weiterspricht. Den Stiefschwestern “Aschenputtels” werden die Füße mit dem Beil blutig verstümmelt, die “Pechmarie” wird mit heißem Pech überschüttet, und die Hexe wird lebendigen Leibes in den glühenden Backofen gestoßen und verbrannt. Kinder - erinnern wir uns - sehen dies gelassen: Was zählt, ist gerechter Ausgleich zwischen Gut und Böse. Die vertrauenerweckende Ordnung muss im Gleichgewicht bleiben, indem die Unschuldigen - die Kinder, die Armen, die Unwissenden, die Ausgestoßenen - gerettet werden und die Schuldigen - die Bösen, die Hinterhältigen, die Tückischen und Raffgierigen - nicht über sie siegen, sondern ihrer Strafe zugeführt werden.

Die grässlichen Situationen, in die Kinder im Märchen geraten, sind eigentlich überzeichnete Bilder der alltäglichen Bedrohungen, denen Kinder in ihrer Schwäche, Einsamkeit und Unerfahrenheit ausgesetzt sind. Wenn der Schirm der Eltern versagt, müssen andere starke Mächte, gute Feen, edle Ritter oder verzauberte Prinzen, für sie eintreten und sie retten.

Da geht es um den Verlust der beschützenden Mutter und um das Versagen des Vaters, wenn die herrische Stiefmutter “Aschenbrödel” oder “Goldmarie” erniedrigt, “Schneewittchen” oder “Brüderchen und Schwesterchen” aus Eitelkeit und Herrschsucht vernichten will, “Hänsel und Gretel” oder “Rapunzel” von ihr ausgesetzt werden. Inzest ist der Hintergrund, wenn “Allerleirauh” sich vor den Häschern versteckt hält, weil der König in seiner Verblendung die Tochter zur Frau begehrt.

Die “Sieben Geißlein” öffnen arglos ihrem ärgsten Feind, dem Kinderschänder, die Tür. “Rotkäppchen” lässt sich in der Abgeschiedenheit des Waldes mit einem Fremden, dem Wolf, ein, einem zunächst charmanten Verführer, der sich schließlich als Vergewaltiger und Mörder entpuppt. “Rapunzel” wird eifersüchtig gefangengehalten, und sie wird verstoßen, als ihre Sünde in der Schwangerschaft offenkundig wird.

Es gibt ausgleichende Gerechtigkeit, das ist die plakative Botschaft aller Märchen. Dünkel, Wortbrüchigkeit und Verwöhnheit - sind das Thema beim “Froschkönig” oder beim “König Drosselbart”. Bei “Dornröschen” geht es um Kränkung, Ausgrenzung und Rachsucht. Bescheidenheit, Hilfsbereitschaft und Verantwortlichkeit - “Frau Holle”, “Schneewittchen” und “Schneeweißchen und Rosenrot”- bringen Lebensglück dem Redlichen. Hochmut, Eitelkeit und Raffgier aber führen den Unredlichen ins Verderben.

Kinder sind genaue Zuhörer. Sie bestehen unerbittlich auf der wortgetreuen Formulierung. Dabei bewahren sie ein Gespür für die Sprachebenen. Sie werden kaum von einer “Dirne” sprechen, wenn sie ein Mädchen mit einer roten Mütze sehen. Sie werden angesichts eines Wolfes im Gehege nicht auf die Bezeichnung “Unhold” oder “Bösewicht” verfallen. Auch fehlende Logik, wie sie der Welt der Märchen eigen ist, schreckt sie nicht: wenn der Wolf als Großmutter verkleidet für Rotkäppchen unkenntlich im Bett liegt, wenn der Bär bei “Schneeweißchen und Rosenrot” seinen Pelz abwirft und darunter ein Prinz zutage tritt oder wenn “Goldmarie” in den Brunnen fällt und, statt zu ertrinken, in “Frau Holles” Parallelwelt landet.

So altertümlich Märchen anmuten, sie haben etwas Heimeliges und Verlässliches. Es ist gerade das farbige, plastische Gewand der Märchen, das Kinder fasziniert. Bei den Grimm’schen Volksmärchen bündelt sich die menschliche Weisheit und das überlieferte Wissen vom geglückten gesellschaftlichen Zusammenleben in immerwährenden Grundzügen. Im Lichte ersichtlicher Übertreibung, Überzeichnung und Verfremdung begibt sich das Kind in die bedrohlichsten Albträume und unerfüllbarsten Wunschträume des Lebens, setzt sich mit Anstand und Unsitte, mit Moral in Gestalt guter und böser Mächte auseinander.

Kinder brauchen Rituale. Auch in der Sprache.

Gutenberg.de: Brüder Grimm Gunhild Simon
2.04.2009

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