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Engel mit Schlachterschürze

Ein Adventsspaziergang im leise rieselnden Schnee, das war meine Idee an einem untypisch klirrend kalten Hamburger Dezembernachmittag. Das Ziel war die Alster mit ihrer weiten erstarrten Wasserfläche, ein Anblick, der in den letzten Jahren rarer geworden ist.

Wohlverpackt und mit trittsicheren Stiefeln machte ich mich auf den Weg durch das noch nachmittagshelle Harvestehude. Weit freilich kam ich nicht.

Denn beim Überqueren des Mittelwegs traf mich das Schicksal wie eine gerade Rechte. Ich schlug ungebremst aufs Pflaster, mein Kiefer krachte, mein Kopf war dumpf. Aber ich fühlte nichts. Einen Moment lang sank ich zurück auf den glänzenden Asphalt, dann kam ein Kind, reichte mir die Hand, ging mir voraus und fragte, ob ich nicht ein Handy dabei hätte. Hatte ich nicht und schämte mich zugleich für meine unbedarfte Ausrüstung.

In unserer gemeinsamen Ratlosigkeit war ich, die Erwachsene, peinlich berührt, schickte das Kind nach Hause und lehnte mich einen Moment zitternd an den Ampelmast an. Das Bild, das ich abgeben musste, kam mir so lächerlich vor – sternhagelvoll wie aus alten Illustriertenwitzen, die Sternchen über meinem schlackernden Kopf konnte ich dazuillustrieren – dass ich mich zusammennahm, meinen ursprünglichen Plan vernunftorientiert, wie ich bin, verwarf, um würdevoll den Heimweg anzutreten.

Eine junge Frau, unterwegs mit Schlitten und kleinen Kindern, hielt mich offensichtlich Dahinwankende an und fragte, ob sie nicht einen Arzt rufen sollte, mein Gesicht sei auch voller Blut. Ich wehrte ab und versprach, meinen Hausarzt aufzusuchen – gleich um die Ecke, am Klosterstern.

Sie stattete mich mit Papiertaschentüchern aus. Der Hausarzt hatte keine Sprechstunde. Ich wollte nach Hause. Es dämmerte bereits, und ich fühlte mich elend.

Aber auf dem Rückweg wollte ich mir noch etwas zum Abendessen einkaufen beim Metzger.

Schottische Hochlandrinder-Familie
Schottische Hochlandrinder-Familie – Foto: günther gumhold – © gugue / PIXELIO

Der Schlachter Beisser [1] ist eine erstklassige Adresse. Das Fleisch hat einen Herkunftsnachweis, die Kotelettes haben keinen feuchten Film, dafür aber einen Fettrand – wie früher. Die Bratwurst schmeckt nach Bratwurst – jedenfalls so, wie meine Erinnerung mir sagt, wie so was zu schmecken habe.

Jedoch – ich wurde nicht bedient.

Stattdessen wurde ich nach meinem Befinden und nach allem, was mir zugestoßen war, befragt, während man mir feuchte Tücher reichte. Schlachter haben offenbar Erfahrung im Umgang mit klaffenden, blutenden Wunden.

Um eine solche handele es sich, wie man mir sachkundig versicherte. Die Entscheidung des Personals lautete: Unfallchirurg.

Ein junger Mann mit Schlachterschürze führte mich zu einer Praxis, ein paar Häuser weiter gelegen, sprach an der Rezeption vor und verabschiedete sich, als alles geregelt war, mit einer Verbeugung, guten Wünschen und der Ermahnung, ihn über den Verlauf zu informieren.

Er war mein Retter, denn wäre ich nicht auf ihn gestoßen, ich hätte mich zu Hause verkrochen. So wurde das Blut gestillt, die Wunden, deren es noch mehr gab, fachkundig genäht und versorgt. Der Widerstrebenden wurden Tetanusspritzen verabreicht mit dem Hinweis auf den qualvollen Tod, der einen durch Wundstarrkrampf ereile.

Der Chirurg mit einem für norddeutsche Verhältnisse ungewöhnlichen Namen – er heißt Weiberlenn [2] – versicherte, dass dies die einzig richtige Entscheidung gewesen sei.

Noch immer sehe ich entstellt aus, meine Unterlippe ist geschwollen und schwarzrot durch ein Hämatom. Ein blutroter Streifen führt vom Mundwinkel herab, dicker Schorf bedeckt die Schürfwunden. Schwarze Fäden ragen wie Spinnenbeine aus meinem Kinn. Kurz, ich sehe aus wie Drakula in weiblich.

Kiefer und Schädel sind mittlerweile durchleuchtet, und die Fäden werden bald gezogen. Die Narbe unterm Kinn wird kaum zu sehen sein.

Vorhin ging ich wieder in den Laden, denn mich verlockte die Bratwurst, die ich mir noch schuldig bin seither. Erkannt zu werden und mit persönlichen Sätzen bedacht zu werden, das ist noch mal so schön beim Einkauf einer simplen Bratwurst, die ja nicht mal ein Braten oder ein Filetsteak ist.

[1] Beisser steht seit 175 Jahren für höchste Qualität (Dort auf Karriere klicken, um die Engel zu sehen!)

[2] Helmut Weiberlenn, Allgemeine Chirurgie, Spezielle Unfallchirurgie

Gunhild Simon
Dez 18 2010

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