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Figur und Gestalt

Die Begriffe Figur und Gestalt haben einen gemeinsamen Bedeutungshintergrund.

Das lateinische Wort figura ist abgeleitet vom Verb fingere, bilden, formen, gestalten. Darin stecken also bereits die Aspekte von Entstehungsprozess – Bildung, Formung und Gestaltung – sowie Ergebnis – Bild, Form und Gestalt.

Als literarische Kategorien haben Figur und Gestalt unterschiedliche Aussagen. Die literarische Figur ist fiktiv. Sie ist von ihrem Schöpfer, dem Dichter, als Typus angelegt. Die Charakterisierung dieses Typus’ wird gefüllt mit je nach Textgattung verschiedenen Aspekten und formt so die literarische Gestalt.

Lateinisch figura bedeutet Aussehen, Gestalt. Im poetischen Gebrauch kommt entweder die Schönheit des Aussehens oder der Umriss des Vergangenen – die Gestalt im Schattenreich der Toten -  hinzu. Abstrahiert ist figura Art und Weise, Beschaffenheit, Gestaltung und Gepräge. Wie im Deutschen ist sie auch die bildnerisch gestaltete Figur. Im Französischen heißt selbst das Gesicht, also das unverwechselbare Antlitz des Menschen, figure.

Die Gestalt wird allgemein gebraucht mit der Bedeutung Art und Weise, Beschaffenheit, Natur, Zustand. Darin steckt das Verb gestellen. Gestalt sagt also etwas darüber aus, wie etwas gestellt, gestaltet ist.

Im Deutschen ist der vornehmliche Aspekt der Figur die Proportion der Körperform und äußeren Erscheinung. Dass Figur auch umgangssprachlich herabsetzend Person, in anderen Zusammenhängen Spielfigur oder geometrische Figur bedeutet, wirft ein Licht auf die breite Skala dieses Begriffs.

Allen gemeinsam ist jedoch die Vorstellung von einem äußeren Umriss, den eine innere Gestaltung ausfüllt. Die Figur ist nach diesem Modell die äußere Form, die mit dem darin eingebetteten Inneren, Lebendigen erfüllt wird. In der Gestalt drückt sich das beseelte und lebendige Wesen aus. [1] Folgt man dieser Betrachtungsweise, so ist Gestalt die Seele, während die Figur das äußere Erscheinungsbild ist.

Die literarische Heldenfigur des Freiheitskämpfers nimmt in “Wilhelm Tell” Gestalt an. Die Figur des Getreuen ist in der Gestalt des “Archibald Douglas” ausgeführt. Die Protagonistin des Bösen, die Figur der machtbesessenen Frau, wird literarisch in “Lady Macbeth” verkörpert.

Märchengestalten werden insbesondere auf eindimensionale Charakterkonturen reduziert. Der Archetypus des Bösen ist die Stiefmutterfigur, konkretisiert in “Aschenputtel” und “Schneewittchen”. Gerechtigkeit und Weisheit personifiziert sich in Gestalt des königlichen Vaters, der seine Jüngste im “Froschkönig”mit allgemeingültigen Werten konfrontiert: “Was du versprochen hast, das mußt du auch halten.” Die in allen Märchen verankerte “höhere Macht” figuriert in der Fee, deren äußere Gestalt ihrer Verkörperung von glücklicher Errettung oder dunklem Fluch angepasst ist.

Ist die literarische Figur der fiktive Rahmen, die figürliche Idee des Ideals, so ist die literarische Gestalt ihre konkrete Ausformung und individuelle Gestaltung.

[1]“Die menschliche Gestalt kann nicht bloß durch das Beschauen ihrer Oberfläche begriffen werden, man muss ihr Inneres entblößen, ihre Teile sondern, die Verbindungen derselben bemerken, die Verschiedenheiten kennen, sich von Wirkung und Gegenwirkung unterrichten, das Verborgene, Ruhende, das Fundament der Erscheinung sich einprägen, wenn man dasjenige wirklich schauen und nachahmen will, was sich als ein schönes, ungetrenntes Ganzes in lebendigen Wellen vor unserm Auge bewegt.”
Johann Wolfgang von Goethe, Schriften zur Kunst. Einleitung in die Zeitschrift “Propyläen”

Gunhild Simon
Aug 06 2012

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