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Gehätschelt und gehegt: Helene Hegemann

Durs Grünbein als anerkannter deutscher Poet und Büchner-Preisträger legt den Debütroman von Helene Hegemann, Axolotl Roadkill, der die Bestsellerlisten stürmt wie einst die sumpfigen Niederungen, Feuchtgebiete, die Charlotte Roche erforschte, dem literaturgeneigten Publikum in schillernden Worten ans Herz:

“… [Ein] Buch, dessen Berückungsmacht ganz unvergleichlich ist in seiner Einheitlichkeit von Sprache und Lebensgefühl, die keine Lücke lässt, in seiner Geschlossenheit persönlicher Struktur, die etwas Fremdes zu dulden sich gar nicht in der Lage sieht.” (faz.net: Durs Grünbein »»Plagiat««)

Auch unter negativen Vorzeichen stimmt dieses Urteil komplett.

Berücksichtigt man, dass dieser Beitrag, wie Grünbein tags darauf bekannte, als Experiment, als Provokation gedacht war, einen Text Gottfried Benns aus dem Jahre 1926 leicht abwandelnd, reagiert man umso verunsicherter.

Wie also herangehen an einen Text, der, kaum erschienen, in aller Munde ist, zur zeitgemäßen, intertextuellen Collage einer Hochbegabten erhoben, als leichtfertiges Plagiat einer Kopistin verworfen? Wie also herangehen an das Erstlingswerk einer kaum dem Kinderzimmer Entwachsenen, einer vom Berliner Kulturbetrieb Inspirierten, familiär Prädestinierten?

Ist dies nichts als ein kommerzieller Trick? Viel Wirbel, der dem Absatz eines Werkes mit berechenbarem Verfallsdatum dient? Woher der Titel, dessen schimmernd rosa Portrait den Einband ziert?

Axolotl Roadkill - das ist ein Teil des Plagiats, hervorgegangen aus der Titelvorlage Iguana Roadkill aus der Bloggerszene.

Ein Iguana ist ein südamerikanischer grüner Leguan, eine Echse, die hierzulande in Terrarien gelegentlich gehalten wird.

Ein Axolotl dagegen ist keine Echse, kein Landbewohner. Es ist ein Schwanzlurch, ein Molch. Jedoch einer von besonderer Exotik.

Der Name Axolotl ist aztekisch, zusammengesetzt aus atl, Wasser, und xolotl, ein aztekischer Gott. Er ist ein Amphibium, ein Schwanzlurch, der nur in einem einzigen Biotop auf Erden vorkommt. Dieses ist der kalte Xochimilco-See in Mexiko. Ein Axolotl hat unter günstigen Bedingungen eine Lebenserwartung von 12 bis 20 Jahren. Bis zur Geschlechtsreife wird er über 20 cm lang.

Dazu ist der Axolotl neotenisch. Neotenie, von griechisch teinein, ausdehnen, heißt, dass die Jugendzeit eines Lebewesens “ausgedehnt ist”, lebenslang bleibt. Seine Gestalt wird nicht erwachsen. Das nennt man pädomorph, aus griechisch paidos, Kind und morphe, Form, kindlich gestaltet. Der Grund ist ein angeborener Schilddrüsendefekt, der einen Hormonmangel zur Folge hat. Deshalb verweilt er, vergleichbar mit einer kiemenatmenden Kaulquappe, die niemals zum lungenatmenden Frosch wird, in seinem Lebensraum Wasser. Seine Kiemen bleiben lebenslang und schmücken ihn wie ein strömungsbewegtes Geweih. Entgegen all diesen Entwicklungsstörungen wird er jedoch fortpflanzungsfähig.

Eine weitere Besonderheit zeichnet den Axolotl aus: Er kann Gliedmaßen, Organe, sogar Teile des Gehirns aus spezifischen Zellen regenerieren, das macht ihn für die Gerontologieforschung interessant.

Der Axolotl ist ein entwicklungsphysiologischer Zwitter, ein Geschöpf, das fortpflanzungsfähig und sogar alt wird, ohne je den Kinderschuhen zu entwachsen: Forever young!

Er ist bei Aquaristen so beliebt wegen seiner comichaft angezüchteten Gestalt: weit auseinander stehende blaue Knopfaugen, ein putziges, freundliches Breitmaul, Kiemenbüschel, die pinkrosa in der Strömung wehen, und rosige Haut – eine Albinozucht, die in freier Wildbahn nicht überlebenfähig ist.

Dieses schrill anmutende kleine Monster mit Kindchenschema-Appeal wird von der einsam-verwahrlosten Protagonistin in einer mit Wasser gefüllten Plastiktüte durch das unwirtliche Berlin geschleppt. Zu befürchten ist, dass die Popularität des Axolotls steigt, ohne dass ihm ein angemessener Lebensraum gegeben wird.

Soweit der Zusammenhang des Romantitels.

Nach den ersten 50 Seiten bereitwilligen, unbefangenen Lesens habe ich schließlich den luxuriös und griffig aufgemachten Band, schwarz mit pink-silbernem Glitter, zeichenkartonähnlichen Buchseiten, unangenehm berührt beiseite gelegt.

Nicht aus persönlicher Entrüstung, dass ein spontanes Oralsexangebot bestenfalls einer alternden Frau jenseits der Sechzig als gemäß betrachtet wurde, sondern weil ich mich durch das nicht enden wollende Ergehen in humosem Schmutz und Körperausscheidungen, die in neue Aggregatzustände übergehend die Wohnung zuwachsen lassen, belästigt fühlte.

Sex- und Gewaltphantasien, die nicht einmal vor Kinderpornographie und detaillierten Beschreibungen von Missbrauch haltmachen – aktive und passive Unterwerfung – gepaart mit sinnfreier und verkürzter Fäkal- und Vulgärsprache, das lässt mich argwöhnen, es gehe hier um den Nachholbedarf pädophiler Kerle an abgefeimten Nymphchen, deren Verdorbenheit erlaubt, sie zu Opfern der schmutzigsten Begierden zu machen, und nicht um das Lebensgefühl junger Mädchen im Jahre 2010.

Ich fühlte mich mit einem gewissen Graus an Otto Muehl erinnert, der in den frühen siebziger Jahren auch schockierende blut- und fäkalientriefende Bilder als Kunst erschuf, eine umstrittene Kunstrichtung, die in ihrer Übergriffigkeit kriminelle Züge annahm.

Während die vollgedröhnten Junkies in einen bewusstseinsverengenden Dämmerzustand fallen, während die Protagonistin mit ihren sechzehn Jahren nach sechs Wochen Schuleschwänzen einen Anruf der Klassenlehrerin schulterzuckend ignoriert, fragt sich der Leser, wie das Leben – Essen und Trinken, Drogen und Clubleben und die im Minimalstil eingerichtete WG mit der allseits geöffneten Wohnungstür – finanziert und geduldet wird.

Man braucht nicht einmal beliebig herausgegriffene Sätze zu zitieren, die schockieren könnten. Das Übel ist, man sucht in einer Aneinanderreihungen von Belanglosigkeiten nach einem Faden des Geschehens. Gleichzeitig stumpft man ab gegen eine Sprache, die im Ruin geistiger Selbstbezüglichkeit unter einem schillernden Schmutzfilm erstarrt.

Gunhild Simon
Feb 26 2010

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