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Gentrifikation

Gentrifikation. Ein neues Schlagwort! Noch steht es nicht im Fremdwörterbuch. Aber es beschreibt einen sich immer wieder erneuernden – auch aktuellen – gesellschaftlichen Prozess.

Gentrifikation – in diesem Wort stecken zwei andere: gentry, englisch, niederer Adel und -fikation, -machung oder das deutsche Suffix -ung, aus lateinisch facere, machen. Gentrifizieren ist also adeln. Gentrifikation heißt aus dieser Sicht “Adelung”, Veredelung. Veredelung – in einem gesellschaftskritischen Sinn zu verstehen.

Gentry kommt seinerseits von lateinisch gens, gentis, f. Die Gentes waren die altrömischen Familienverbände, die großen Sippen der Patrizier, wie die der Aemilier, Cornelier, Claudier, Fabier, Valerier, Julier – so stammte C. (Gaius) Iulius Caesar aus der gens Iulia und Ti. Claudius Nero Caesar, Kaiser Tiberius, aus der gens Claudia. Der zweite Namensbestandteil bezeichnete folglich den Namen der Gens. Ursprünglich bedeutete gens Adel, Abstammung, wie umgekehrt aus dem Merkmal sine gente, ohne Abstammung, hervorgeht. Die führenden Familien Roms waren die gentes maiores, die aus ihrer gesellschaftlichen Stellung Privilegien für sich einforderten. Auch der römische Senat spiegelte diese gesellschaftliche Bewertung wider in den patres maiores gentium, den Vertretern der älteren Familien und den patres minores gentium, solcher, die erst später hinzukamen.

In England bezeichnete man mit gentry eine Schicht des gehobenen Bürgertums und des niederen Adels. Diese war ursprünglich entstanden aus einer wohlhabenden Schicht von Landbesitzern, die im Gegensatz zu den freien Bauern ihr Land nicht mehr selbst bestellte, sondern verpachtete. Dass sie für den Begriff Gentrifikation Pate standen, hat jedoch noch ein weiteres Merkmal ihrer Existenz zur Grundlage. Der Gentry gelang es, einen Teil der öffentlichen Weiden – der Allmenden – durch Einhegungen in ihren Besitz zu bringen. Dies bedingte die Verarmung und Landflucht der einfachen Bauern und die Bildung des Proletariats in den Städten. Es war eine Voraussetzung der Industrialisierung.

Unter Gentrifikation versteht man in Anlehnung an diese gesellschaftliche Veränderung einen Prozess, der die Vertreibung der ansässigen Bevölkerung aus ihrem traditionellen Umfeld ausdrückt. Er wird im engeren Sinn angewendet auf ein Quartier, einen “Kiez”, dessen Attraktivität in seiner gewachsenen Stuktur oder seiner multikulturellen Buntheit besteht.

Zunächst strömen Neuzuzieher in ein billiges, unsaniertes, möglicherweise verwinkeltes und daher seinen Charme bewahrendes Stadtviertel. So entsteht eine Mischung aus Migranten, Studenten, Künstlern, Kleingewerbetreibenden und Altansässigen. In ihrem Gefolge siedelt sich ein Mix aus exotischen Läden, Flohmärkten und Gastronomie – Cafés und Garküchen – an. Möglich ist das, weil Wohn- und Gewerberaum vielversprechend, erschwinglich und angemessen ist für eine anspruchslose, gemischte, tendentiell unkonventionelle und tolerante Klientel. Mit zunehmender Attraktivität steigen dann die Preise, Neubauten entstehen, es wird in einem aufwendigen Stil saniert. Schließlich verdrängen finanziell Stärkere die alteingesessenen Bewohner.

Diese Umstrukturierung zeigt sich in Ottensen, im Herzen von Altona, und auf St. Georg in der Langen Reihe jenseits der Außenalster. Aufmerksamkeit verleiht die Aussicht auf die Bundesgartenschau neuerdings Wilhelmsburg. Durch die isolierte Insellage wurde es von der Öffentlichkeit bisher kaum wahrgenommen. Dieser erwachende Stadtteil war ursprünglich ein traditionelles Arbeiterviertel im Gründerstil, später eine Hochburg moderner Arbeitsmigranten – mehr Freihafen als Hamburg. Jetzt wird er neu entdeckt.

Das Hamburger Schanzenviertel, Teil des Kiez von St. Pauli, zeigt exemplarisch diesen Prozess des Strukturwandels. Ein Gutteil des Lebens spielt sich hier sichtlich draußen ab: bunte Auslagen türkischer Obst- und Gemüseläden, Blumen in Bottichen, vor den Läden drapierte Waren, Friseure, Metzger, Fisch- und Käsehändler, die man bei der Arbeit beobachtet, verlockende Düfte aus offenen Imbiss- und Kaffeehaustüren, Musik. Man zwängt sich auf engen Gehwegen und fühlt sich im Bauch der Stadt. Wohin man sieht, werden Häuser entkernt, saniert und Baulücken geschlossen. In höher gelegenen Etagen ist die Privatheit unbehelligt vom Lärm des Nachtlebens. Die Mietpreise bei Neuvermietungen übersteigen bereits die der bürgerlichen Stadtviertel.

Ein buntes, belebtes Viertel übt Anziehungskraft nach außen aus. Viele, auch Touristen, kommen zum Flanieren, Feiern, Stadt-Erleben, Essen und Trinken. Durch die Straßengastronomie herrscht Trubel bis in die Nacht. Die Attraktivität bewirkt steigende Mieten, Luxussanierungen und Neubauten. Sie werden für viele bald zu teuer und zwingen sie, das Quartier zu verlassen.

Betroffen sind insbesondere Großfamilien und Alteingesessene, die sich an die veränderten Bedingungen nicht mehr anpassen können. Sie ziehen dann in unpersönliche Neubausiedlungen am Stadtrand mit öder Infrastruktur. In dieser einförmigen, anregungsarmen Umgebung ein gesellschaftliches Leben zu gestalten, nachbarliche und freundschaftliche Kontakte aufzubauen, ist um Vieles komplizierter und führt leicht zu Isolation, Vereinsamung und geistiger Verarmung.

Gunhild Simon
Nov 13 2009

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