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Gerundium oder Verb-Substantivierung?

Im Deutschen wird das Verbalsubstantiv, das inhaltlich der Kern von Gerundium, Gerund oder Gérondiv ist, mit dem substantivierten Infinitiv gebildet.[1]

Partizipialkonstruktionen, die mit Hilfe des Mittelworts der Gegenwart, des Partizips I, Gleichzeitigkeit vermitteln könnten, werden im Deutschen vermieden. Stattdessen wird gleichzeitiges Geschehen mit einem Adverbialsatz, der mit während oder indem eingeleitet wird, einem Adverbiale oder einer Verbsubstantivierung ausgedrückt.
Nicht: Er telefonierte gehend.
Sondern: Er telefonierte, während er ging.
Oder: Er telefonierte im/beim Gehen.

Die Verlaufsform, selbst wenn sie im Einzelfall vielgestaltig und mehr oder minder exakt zu umschreiben ist, spielt im deutschen Tempussystem eine untergeordnete Rolle.

Ars vivendi, the art of living wird mit die Kunst zu leben, die Kunst des Lebens oder die Lebenskunst übersetzt. Im Deutschen gibt es dafür nur den Infinitiv als substantivierte Verbform: my opening the window, das (meinerseitige) Öffnen des Fensters, by smoking, durch Rauchen, en passant, im Vorübergehen, ars scribendi, die Kunst des Schreibens, ad libros recte legendum, zum richtigen Lesen der Bücher.

Diese Strukturen sind aus dem Verb abgeleitete Formen, die an Partizipialkonstruktionen erinnern. Von einem Gerundium können auch andere Satzteile - Objekte, Adverbiale - abhängen. Insofern kann man daraus ersehen, dass es im Deutschen kein ebenbürtiges Gerundium gibt, sondern nur das Verbalsubstantiv in Form eines substantivierten Infinitivs.
Als eine weitere Übersetzungsform kommt ein sinngleicher Adverbialsatz in Betracht: my opening the window - dass ich das Fenster öffne, by my smoking - dadurch, dass ich rauche. Im Französischen kann mit dem Gérondif ein Adverbialsatz ersetzt werden. Das Gérondif wird gebildet mit der Partikel en und der unveränderlichen Partizip-I-Form, z. B. en attendant - während er wartete. Eine adäquate Übersetzung kann umgekehrt auch ein Verbalsubstantiv, ein substantivierter Infinitiv mit Präposition, sein: beim Warten.

Einigen Verben sind Präpositionen zugeordnet. Diese Zuordnung ist idiomatisch. So steht bei gehen in bestimmten Zusammenhängen die Präpositionen zu. Ein substantiviertes Verb wird mit der Präposition zu in der gleichen Weise verbunden wie eine Ortsbestimmung: Ich gehe zur Schule, zur Kirche, zum Markt, zum Einkaufen, zum Schwimmen.

Ähnliche Konstruktionen finden sich bei zum und im, wenn diese Präpositionen bestimmten Ausdrücken zugeordnet sind.

Erst jetzt komme ich dazu, dass ich schreibe/zu schreiben. Erst jetzt komme ich zum Schreiben.
Ich finde Entspannung, indem/wenn ich male. Im Malen finde ich Entspannung.
Ich bin dabei/begriffen zu gehen/aufzubrechen. Ich bin im Gehen.
Die Nacht geht. Die Nacht ist schon im Schwinden.
[2]

Es sind hier idiomatische Wendungen oder poetische Situationen, die es nahelegen, bestimmte Verben so zu verwenden. Die Wahl zwischen der Formulierung “Die Nacht ist schon im Schwinden” oder “Es dämmert schon” hängt von der poetischen Intention und dem Versmaß ab.

Es gibt im Deutschen keine Verlaufsform, so wie sie im Englischen existiert. Wohl aber gibt es Umschreibungen, die inhaltlich ausdrücken, was die englische Verlaufsform intendiert: gerade dabei sein zu tun.

Je nach Sprachebene ist dieser Sachverhalt des sich Vollziehenden oder des Beschäftigtseins darstellbar. Umgangssprachliches und Hochsprachliches sind hier stärker miteinander verzahnt als in anderen Bereichen. Das liegt daran, dass die Umgangssprache näher am Gemeinten ist mit ihrer oft als falsch empfundenen rheinischen Verlaufsform am Tun sein: z. B. am Überlegen sein. Kommt zu der Aussage am Schreiben sein dann ein Objekt dazu, klingt die Struktur schließlich fremd, wenn nicht sogar falsch: Ich bin am Briefeschreiben wird zu “Ich bin einen Brief am Schreiben”, oder: Ich bin am Kaffeetrinken zu “Ich bin Kaffee am Trinken.” Kriterium der Betrachtung ist hier jedoch nicht das Richtig oder Falsch, sondern die Frage “Wird diese Form von Muttersprachlern gebraucht und verstanden?” Der Kommunikationszusammenhang entscheidet wiederum über die Angemessenheit innerhalb eines bestimmten Kontexts.

In den Formulierungen am Tun sein, beim Tun sein sind die Präpositionen an und bei mit dem substantivierten Verb verknüpft als Ausdruck und zum Zeichen des Verlaufs. Im Unterschied zu am-Sein kann beim-Sein ein anderes Tun, etwa die pure Anwesenheit oder ein Zuschauen bedeuten: “Ich bin beim Kartenspielen” kann ebenso andere damit einherhergehende Gewohnheiten und Tätigkeiten einschließen.

Ein Merkmal eines Verbs, ob es sich für eine Form eignet, die der Verlaufsform entspricht, ist die Frage nach der Perfektivität. Perfektiv sind Verben, die den Abschluß eines Tuns markieren. So steht als nicht weiter unterteilbares Verb finden dem aus vielerlei Einzelhandlungen sich zusammensetzenden Verb suchen gegenüber. Ähnlich betrachtbar sind in einer solchen Beziehung versuchen und gewinnen, ein Buch lesen oder ein Buch zuschlagen.

Im Deutschen haben perfektive Verben im Präsens einen Zukunftsbezug. Deshalb würde die Lücke, die das System der deutschen Grammatik in dieser Frage hat, mit einer am-Form hier geschlossen. Ich bin am Gewinnen. Das drückt etwas Imperfektives, Fortgesetztes, etwas Progressives aus, das im normalen Präsens nicht zum Ausdruck käme, weil das Präsens gerade bei solchen etwas Abschließendes enthaltenden Verben den Akzent auf Zukünftiges legt. Er stirbt bedeutet also: Er wird sterben. Er verhungert bedeutet: Er wird verhungern. Um diesen Vorgängen das Merkmal der Gegenwart zu verleihen, bedarf es eines Zusatzes: er ist dabei zu verhungern, verhungert gerade, im Moment, jetzt. Oder: ist am Verhungern, am Verblühen, am Vergehen, am Verfaulen etc. Im Perfekt erreichen diese Verben eine Überschneidung mit den Formen des Zustandspassivs, das mit sein gebildet wird. Dieses ähnelt in seiner Aussage und Anwendung dem Prädikativ. [3]

[1] Die Formen des englischen Gerunds und des französischen Gérondifs sind dem Partizip Präsens entnommen, im Lateinischen jedoch trügt der Schein. Es besteht offenbar nur eine lautliche Ähnlichkeit zwischen der -nt-Endung des Partizips Präsens und der -nd-Endung des Gerundiums und Gerundivums. Sie sind sprachhistorisch nicht eindeutig miteinander verknüpft.
[2] EG Nr. 16 Die Nacht ist vorgedrungen (Jochen Klepper, 1938)
[3] Zur Frage einer deutschen Entsprechung zur englischen Verlaufsform vgl.
tu-darmstadt.de: Das deutsche Progressiv - neue Struktur in altem Kontext

Gunhild Simon
4.01.2009

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