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Märchen

Angesichts des alten Märchenbuchs wird man schier von Sehnsucht übermannt. Beim Anblick der vertrauten Bilder fühlt man sich zurückversetzt in alte Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat.

Man sieht das Kind von einst, wie es in sicherer Hut mit einem wohligen Schauer den Märchen lauschte. Schon dieses Kind wusste, dass die guten Mächte am Ende über die bösen siegen würden.

Die Volksmärchen, so heimisch, heimatlich und heimelig sie wirken, so eingeboren sie der deutschen Seele scheinen, haben sie doch eine weite erzählerische Reise gemacht – von Mund zu Mund weitergegeben, aus dem fernen Indien und Persien von buntem, fahrendem Volk herübergetragen. Dass sie gesammelt, aufgeschrieben und in ihre anrührende Poesie gebracht wurden, ist das Verdienst der Brüder Grimm. Da ist besonders Wilhelm hervorzuheben, der sich gerade um der Sprache willen gegen seinen Bruder Jakob durchgesetzt hat.

Die Brüder Grimm waren zwei unermüdliche Bibliothekare und Germanisten. Sie haben das Grimm’sche Wörterbuch geschaffen, und sie haben sich um die schriftliche Überlieferung der Volksmärchen verdient gemacht. Ihre Märchensammlung ist berühmt in aller Welt.

Was bedeutet das Wort Märchen?

In dem Substantiv Märchen kann man das untergegangene niederdeutsche Verb maeren, verkünden, rühmen, erkennen. Darauf verweist heute noch ausmären, weitschweifig, umständlich erzählen. Mittelhochdeutsch steckt darin maere, die Mär, erhalten in einem Luther-Weihnachtslied “… Ich bring euch gute, neue Mär”. [1]

Mär bedeutete Verkündung, Kunde, Nachricht. Die positive Konnotation ist verblasst und hat einem anderen Klang Platz gemacht. Mär ist in heutiger Sprache ein trügerischer Bericht. Daneben steht das altertümliche Verb mären, das abwertend als sich ausmären vorkommt. Also bedeutet Märchen “kleine Kunde”.

Erfahrungen mit Fremdem, Exotischem waren früher ungebundenen Handwerksgesellen, Soldaten, die den Kriegszügen folgten, Reichen, die sich das Reisen leisten konnten, vorbehalten. Der Radius des einfachen Mannes, des Bauern und Dorfgenossen, war klein, weil der Erschließung der Welt enge Grenzen gesetzt waren. Um Pferd und Wagen zu unterhalten, bedurfte es eines Vermögens.

Märchen waren die Unterhaltung, als das Leben noch in schlichteren Bahnen verlief, als die Jahreszeiten und ihr natürliches Licht noch die Aktivitäten des Tages bestimmten. Deshalb war die dunkle Zeit dem Spinnen, Flicken und Erzählen gewidmet. Die Aufgabe des Erzählens fiel den Alten zu, deren Finger zu ungeschickt und deren Augen zu schwach waren. Erzählen war ihre Kunstfertigkeit.

Was es zu erzählen gab, sollte erbauen, unterhalten und belehren. Demut lehren vor den höheren Mächten, die Bescheidenheit preisen, die über Hoffart – “Hochfahrt” – triumphiere, die Hoffnung nähren, dass das Gute das Böse besiege, den Glauben festigen, dass der liebe Gott seine schützende Hand über seine gottesfürchtigen Kinder halte.

Im Märchen stehen sich Gut und Böse plakativ gegenüber: selbstlose Güte und blanke Bosheit, Heldenmut und Duckmäusertum, Großherzigkeit und Neid, Ehrlichkeit und Verschlagenheit.

Darin sind die Urängste und Grunderfahrungen des Menschenlebens verschlüsselt, aus ihnen lassen sich die immer wiederkehrenden Nöte menschlicher Existenz entschlüsseln. Das macht die Volksmärchen gültig für alle Gesellschaften und Völker.

Märchen thematisieren traumatische und schicksalhafte Lebensbedingungen – Hunger und Armut, Gefangenschaft und Heimatlosigkeit, Schwachheit und Hilflosigkeit. Es geht um alle Übel der Welt, besonders um Betrug und Mord. Metaphorisch nur notdürftig verschleiert konfrontieren sie schon die Kleinsten mit Tabus wie Schwangerschaft, Missbrauch, Inzest und Aussetzung.

Auch Frauen war früher gefährdeter. Lebensgefährlich war das Gebären. Mutterlose Kinder mussten dann versorgt werden, Männer brauchten eine neue Gefährtin – Hausfrau, Ehefrau und Kinderfrau – die “böse Stiefmutter”, die die Kinder der Vorgängerin weniger liebte, gar ablehnte. Wurden sie Witwen, unterstand ihre Versorgung der Gemeinschaft. Ein Fehltritt aber brachte sie in Sünde, Elend, Verbannung und Vogelfreiheit.

Im Märchen kommt im Angesicht größter Not und Drangsal den Verlorenen, Rechtschaffenen und Unschuldigen Hilfe von märchenhaften Gegenmächten – engelhaften Feen, braven Wichteln, verwunschenen Prinzen, die sie von bösen Zauberkräften, und aus dem Bann unbesiegbarer Drachen, giftköchelnder Hexen und hinterhältiger Zwerge erlösen.
[1] Vom Himmel hoch da komm ich her. EG 24

Gunhild Simon
Dez 13 2009

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