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Morituri te salutant – das vermisste Partizip Futur

In den Medien wurde kürzlich von der Ermordung einer großen Zahl junger Südamerikaner durch die mexikanische Drogenmafia berichtet. Trotz ihrer Illegalität hatten sie sich geweigert, in den Dienst eines der verfeindeten Drogenkartelle zu treten und diese Entscheidung mit dem Leben bezahlt.

Unabhängig von der menschlichen Tragödie und dem politischen Skandal ist hier ein sprachliches Problem zu erörtern.

Sie waren im Begriff, ihr Land als Auswanderer zu verlassen und in den USA als illegale Einwanderer ihr Glück zu suchen. Man kann sie Arbeitsflüchtlinge oder Arbeitsmigranten nennen. Darin kommt aber nicht das Zukünftige, aber Unvollendete, ihres Plans zum Ausdruck. Im Deutschen ist man also auf eine Umschreibung angewiesen, die diesen zukünftigen Status wiedergibt.

Im Lateinischen ist das Futur ganz unbefangen zu gebrauchen; es hat einfach eine im Wortinnern eingefügte Silbe, die es kennzeichnet. Diese Silbe lässt sich leicht erkennen. Sie lautet in der Regel -bi-, z. B. portabis, 2. pers. sing. act. - du wirst tragen, portabitur, 3. pers. sing. pass. – er, sie, es wird getragen werden.

Im Deutschen ist das Futur, mehr noch das Futur II, die vorzeitige Zukunft, ein Konstrukt, eine “künstliche” grammatische Zeitebene, die dem Sprachempfinden in dieser Form nicht entspricht. Der Bedarf an diesem Tempus hat sich erst aus dem Bedürfnis entwickelt, lateinische Zeitenfolgen exakt nachzubilden. Das zeigt sich verstärkt an den zusammengestzten Formen, die den Einsatz der Hilfsverben werden und haben bzw. sein erfordern. Durch die Umständlichkeit zusammengesetzter Zeiten droht ein Text hölzern und sperrig zu werden. In Übersetzungen greift man daher, wie in der natürlichen Formulierung, besser zu Zeitadverbien wie morgen, bald, niemals, um die Zukünftigkeit der Handlung abzubilden. Eine andere Möglichkeit ist der Einsatz von modalen Hilfsverben wie wollen, müssen oder sollen, die neben ihrer modalen Aussage einen zukünftigen Aspekt ausdrücken können.

Das Futur, mehr noch das Futur II, die vorzeitige Zukunft, ist ein Tempus, das historisch dem Deutschen noch weniger entspricht. Das Futur II wird eher durch Adverbialien – z. B. nach der Ausführung von XY – oder durch Konjunktionen, die Nebensätze in bestimmte Zeitenfolgen einordnen – z. B. bevor nicht oder nachdem etwas ausgeführt ist (= sein wird), … – gekennzeichnet.

Im Deutschen beschränkt sich das Partizip Präsens auf attributiven Gebrauch, z. B. das lernende Kind. Dagegen wird es, anders als im Englischen, nicht zur Bildung einer Verlaufsform prädikativ verwendet: z. B. *Das Kind ist lernend wie im Englischen The child is learning.

Eine vom deutschen Sprachempfinden sich vollkommen unterscheidende Denkweise drückt sich im lateinischen Partizip Futur aus. Das Partizip Futur lässt sich im Deutschen nur durch Umschreibungen ausdrücken: *die auswandernd sein Werdenden werden dann zu

- die Auswanderungswilligen
- die Auswanderungsbereiten
- die, die im Begriff sind auszuwandern
.

Auch dem Begriff für die Reifeprüfung an höheren Schulen, lateinisch korrekt der maturitas absolutiorum, dem Abitur, liegt keine Passivform “es wird abgegangen”, sondern das Partizip Futur des Verbs abire, weggehen, zugrunde. Abiturus wäre also bereits einer, der im Begriff ist zu gehen, die Einrichtung zu verlassen. Die an lateinische Formen des Partizips Präsens angelehnte Bildung Abiturient wäre so gesehen ein grammatisches Missverständnis.

Der Satz im Titel Morituri te salutant wird den Gladiatoren zugeschrieben, die vor Beginn des grausamen Spektakels im Angesicht des unausweichlichen Todes diesen Satz ehrerbietig an den römschen Kaiser richteten: Morituri te salutantDie Todgeweihten grüßen dich. Es sind die in den Tod Gehenden, die sich anschicken, die bereit oder gezwungen sind zu sterben. Hier wird die Zukünftigkeit des Geschehens durch Begriffe wie gehen, sich anschicken, geweiht, bereit, willig, gezwungen, bestellt [1] sein oder im Begriff stehen zum Ausdruck gebracht.

[1] Als weiteres literarisches Beispiel könnte die Formulierung Goethes über den Türmer Lynkeus aus Faust II anzusehen sein:
Zum Sehen geboren,
Zum Schauen bestellt,

Gunhild Simon
Aug 27 2010

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