Thumulla.com

Pascal Mercier: Nachtzug nach Lissabon

Finistère ist ein unwirtlicher Ort. Schroff und steil ragt er in den brausenden Atlantik - in der Bretagne, in Cornwall, Galizien oder in Portugal. Finisterre, Finis terrae, Ende der Welt - Rand der Alten Welt.

Dahinter begann das Schattenreich der griechischen Mythologie, das Odysseus auf seinen Irrfahrten berührte. Weit dahinter kommt nach langer Schiffspassage Amerika.

Lissabon liegt an dieser äußersten Atlantikküste. Der Sage nach ist Odysseus der Gündungsvater. Auch den seefahrenden Phöniziern und Karthagern mochten die Hügel an der Mündung des Tejo als Stützpunkt gedient haben. Die archäologischen Spuren aus diesen Epochen der Antike sind vergangen. Geblieben sind die Spuren der Römer, die hier durch ihre Veteranen die Provinz Lusitania unterhielten. Lissabon nannten sie Felicitas Iulia. Die portugiesische Sprache ist von ihnen geprägt.

Lissabon. Stadt mit bewegter Vergangenheit. Zeugnis vom Glanz einer Weltmacht und vom Elend verheerender Geißeln der Zivilisation. Schließlich Stadt der Hoffnung für die, deren rettendes Ufer die Neue Welt war. [1]

Lissabon mit steil ansteigenden Treppen und Gassen - dazwischen platanenbestandene Plätze. Fayencefassaden in Blautönen. Rasselnde Straßenbahnen, pittoresk-schäbige Altstadtschönheit. Mediterranes Leben in den Straßencafés und -restaurants. Fado und Fisch, Vinho verde und Galao.

Die portugiesische Sprache, in Europa fern und fremd, dennoch, anders als das beengte Deutsch, die Sprache von Welteroberoberern. In unseren Ohren klingt sie, anders als das prononcierte Spanisch verwaschen und unscharf mit seinen weichen und summenden Lauten.

Lissabon, das war auch das Zentrum eines finsteren Regimes, geächtet bis zu den siebziger Jahren, als die Nelkenrevolution das vergessene Land wieder zum Erblühen brachte.

Von hier brachen Entdecker und Eroberer zu entlegenen Zielen auf. Hier wurden unter der faschistischen Herrschaft Menschen eingekerkert und gefoltert. Von hier versuchten sie zu entkommen. Nun wird Lissabon Ziel eines Suchenden, des Schweizers Gregorius.

Ein Suchender wurde Gregorius über Nacht. Die Begegnung mit einer Portugiesin brachte seine zeitlebens festgefügte Ordnung aus dem Takt. Er, der verlässlich im Klassenzimmer eines Berner altsprachlichen Gymnasiums hockend Schülergenerationen vorüberziehen sah, wird erfasst vom Klang eines portugiesischen Satzes. In einem Buchladen stößt er auf das Buch eines Portugiesen, altersmürbe und verblichen. Es berührt seine Seele. Dem Leben des Autors auf die Spur zu kommen wird plötzlich lebensbestimmend. Er entsagt allem Vertrauten, allem, was ihm bis dahin etwas bedeutete. Ohne Abschied verschließt er seine Tür und macht sich auf die Reise. Der Nachtzug nach Lissabon soll ihn an sein vages Ziel bringen.

Nachtzug ist eine Metapher für das Leben. Jedem Individuum ist eine eigene innere Welt mitgegeben. Nennen wir sie Seele, Bewusstsein oder Wahrnehmung! Diese innere Welt ist unser untrennbarer Begleiter auf der Lebensreise. Wir haben sie nicht erwählt, sondern sie ist uns zuteil geworden. [2]

Die Gedanken des unbekannten Autors Prado, eines genialen portugiesischen Arztes, bringen ihn auf die Spur zu sich selbst. Umgetrieben von der Frage nach dem eigenen ungelebten Leben, der Frage, welcher der vielen Möglichkeiten, die in einem schlummern, man folgt, sodass eine einzige - soll man sie beliebig nennen? - quasi schicksalhaft lebensbestimmend wird.

In der Seele des jungen Gregorius hatte alles nach Verwirklichung gestrebt. Doch der Aufbruch zum Sehnsuchtsort seiner Jugend Isfahan an die Stätten der Bildung, war ihm verwehrt. Stattdessen verwuchs er mit dem behäbigen Bern, zog sich als Gymnasiallehrer ganz in sein Fach der alten Sprachen zurück. Er wurde zu einem Teil des Gymnasiums, das er selbst schon besucht hatte. Zurückgezogen in seine Welt hatte er sich ganz zu einem verstaubten, weltabgewandten Unikum entwickelt.

Er, Inbild der Schwerblütigkeit in Sprache und Habitus, gerät in eine Metamorphose, die sich im vorfrühlingshaften Licht Lissabons in der Veränderung seiner äußeren Erscheinung vollzieht. Sein Lebensgefühl verändert sich, während sich selbst seine Gestalt der südländischen Leichtigkeit angleicht. Seine Kurzsichtigkeit, so unzeitgemäß konserviert, macht in Lissabon einer neuen Klarsichtigkeit Platz. Sein schulmeisterliches Habit weicht modischer, leichter Kleidung. Die ersten Schritte, alte Hüllen abzuwerfen, sich zu häuten.

Die beiden Leben - hier das des perfektionistischen Altphilologen, da das des kompromisslosen, grandiosen Arztes - werden ineinander verwoben, indem Gregorius leidenschaftlich ergriffen dem Leben Prados nachspürt, um die Welt aus der Perspektive des anderen zu betrachten. Er durchstreift Lissabon auf der Suche nach den Lebensspuren, die den anderen ausmachten.

Prado war ein mit höchsten intellektuellen, gesellschaftlichen und materiellen Vorzügen ausgestatteter Mensch. Als Arzt glüht er für seinen Beruf - professionell, sicher, selbstlos und heilbringend. Doch eine Entscheidung, die allein seinem Berufsethos folgte, wird ihm zum Verhängnis. Seine Patienten wenden sich von ihm ab. Er stirbt als Verkannter.

In dem Roman treffen nur außerordentliche Charaktere aufeinander. Alle zeichnet ein gemeinsames Merkmal aus: Jeder ist für sich betrachtet ein Perfektionist. Dabei bleiben normale menschliche Züge auf der Strecke. Deshalb wirken die Figuren überzeichnet. Das wird durch die Beschreibung ihrer Besonderheiten mit fast gewohnheitsmäßiger Redundanz hervorgehoben. Die außerordentlichen biographischen Strukturen erscheinen unwirklich.

An der Figur des Protagonisten soll sich dieser Eindruck verdichten:

Gregorius wird charakterisiert als ein weltabgewandter, etwas versponnener Gelehrter, der in seiner vernachlässigten Wohnung seinen altphilologischen Fragen nachgeht. Er, ein schwerfälliger, ungeschickter, alternder Mann, angetan mit verbeulter Kleidung und unkleidsamer Brille, blickt auf eine gescheiterte Ehe mit einer quirligen, blitzgescheiten Schülerin zurück. Sie hat ihn, den Unzeitgemäßen, Unbeholfenen, als einen Gedemütigten verlassen. Eine solche Ehe jedoch ist ein Faux-pas in einem Lehrerleben, der nicht unwidersprochen von der Administration hingenommen wird.

Als dieses Abbild eines “Professors Unrath”, einer zufälligen Begegnung folgend, überdies plötzlich untertaucht, wird er weder kritisiert noch suspendiert, sondern schmerzlich von seinen Schülern wegen seines interessanten Unterrichts - andernorts als verschroben und in seinem vielfältigen Wissen befangen beschrieben - vermisst. Von seinem Vorgesetzten wird er unterstützt und gedeckt. Von Lissabon aus beauftragt der Aussteiger eine seiner Schülerinnen, die sich zufällig als des Portugiesischen mächtig erweist, ihn mit Fachbüchern über Portugal zu versorgen, ein für einen Pädagogen unprofessionelles Tun, das befremdlich wirkt.

Warum wird dieser in seinem altertümlichen Fach so friedlich Aufgehobene und Ruhende durch Schlaflosigkeit umgetrieben, die doch eher das Los der abgrundtief Verunsicherten, der Depressiven, der Rastlosen ist? Warum teilt er diese in nächtlichen Gesprächen mit seinem Augenarzt, der ihm, obgleich so freundschaftlich verbunden, doch nicht zur Überwindung seiner Sehschwäche hilft?

Alle Figuren sind von aufsehenerregender Exklusivität, dabei schattenlos und plakativ. Inhaltlich ereignet sich eher Lapidares: Ein aus dem Dienst weggelaufener Lehrer begibt sich in eine fremde Stadt, durchstreift Cafés und Buchhandlungen, kleidet sich neu ein, erlernt das Rauchen, spielt Schach. Die Begegnungen mit den Menschen, die ihn in seinen Recherchen weiterbringen, sind nicht logisch nachvollziehbar. Sind sie zufällig? Welche Anhaltspunkte haben Gregorius veranlasst, sie so treffsicher aufzufinden?

Die zweite Ebene, die eingeflochten wird, ist die der Erforschung der vergangenen Epoche, die das Leben des Portugiesen prägte. Diese Epoche hatte das Leben in Lissabon düster gemacht. Verfolgung, Verschwinden, Hinrichtung und Folter drohten.

Der Leser sieht sich philosophischen Fragen menschlicher Existenz gegenübergestellt. Das gibt dem Roman eine großartige und anspruchsvolle Note: “Wie wäre dieses unwiederholbare eigene Leben, könnte man es in der Haut eines anderen erfahren?” Oder “Welche Rolle spielt Sterblichkeit für die Wahrnehmung dieses unwiederholbaren Lebens?”.

Aber fast widerwillig ertappt man den Autor bei sprachlichen Überdehnungen, hochtrabenden Etikettierungen und sachlichen Ungereimtheiten. Etwas bescheidene, unprätentiöse Lakonie hätte ihm wohl angestanden.

[1] Erich Maria Remaque: “Eine Nacht in Lissabon”, Anna Seghers: “Transit” und der Filmklassiker mit Ingrid Bergman “Casablanca”
[2] vgl. http://www.zeit.de/2004/49/L-Mercier?page=all

Gunhild Simon
Mai 20 2011

alle    deutsche Sprache    Gunhild Simon    Startseite(__index)



Thumulla.com    Startseite der Artikel    Links und Werbung    Diskussion    Suche auf dieser Seite