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Präteritum oder Perfekt? Dauer und Historische Vergangenheit im Deutschen

Die Ebenen der Vergangenheit im Deutschen sind kompliziert. Diese Eigenschaft teilen sie zwar mit anderen Sprachen. Jedoch hat jede ihre eigenen Auffassungen.
Die grammatischen Formen der Vergangenheit im Deutschen entziehen sich eindeutiger Zuordnung. Alltagssprache und Schriftsprache überschneiden sich, ohne derselben Logik zu folgen.

Der Fachbegriff für die grammatische Zeit lautet Tempus. [1] Weil die grammatischen Zeiten in einem Verhältnis zueinander stehen, nennt man diese Beziehung Tempussystem.

Drei Begriffe stehen zur Verfügung, um die unterschiedlichen Vergangenheitsebenen auszudrücken. Die Fachbegriffe lauten Imperfekt oder Präteritum für die einfache Vergangenheit. Perfekt, neuerdings auch Präsensperfekt genannt, ist die vollendete Gegenwart. Unter Plusquamperfekt versteht man eine Zeitform, die zwei unterschiedliche Vergangenheitsstufen im Hinblick auf Vorzeitigkeit und Nachzeitigkeit einander zuordnet. Deshalb heißt sie vollendete oder vorzeitige Vergangenheit.

Die lateinischen Begriffe sind inhaltlich nur unzureichend übertragbar auf den Zeitengebrauch im Deutschen.

Der lateinische Begriff Imperfekt heißt wörtlich “das Unvollkommene, Nichtperfekte”, Präteritum “das gerade Vorbeigegangene”. Diese Eigenschaften treffen auf den deutschen Gebrauch dieser Zeit nicht zu. Zwar nennt sie sich auf Deutsch “erste” oder”einfache Vergangenheit”. “Einfach” bedeutet aber nur “nicht zusammengesetzt”, z. B. ich ging, holte, schaute, kaufte.

Dagegen heißt Perfekt, “das Abgeschlossene, das Perfekte”, im Lateinischen so, weil sie als Erzählzeit dient, also als Zeit, die man für die Beschreibung endgültig vergangenen Tuns braucht. Das Perfekt ist daher dort auch das Tempus der Darstellung von Geschichte und Geschehen, wie sie in Cäsars Kriegsberichterstattung vom gallischen Krieg, De bello Gallico, überwiegt.

Hier liegt ein unterschiedliches Tempusverständnis in beiden Sprachen zugrunde, denn im Deutschen wird gerade zur Darstellung eines historischen Ablaufs die erste Vergangenheit verwendet.

An einem Märchentext will ich dies verdeutlichen.

Es war einmal ein kleines Mädchen, das trug immer ein rotes Samtkäppchen. Und weil es ihm so gut zu Gesicht stand, nannten alle es das Rotkäppchen.

Eines Tages rief die Mutter es zu sich und sprach: “Die Großmutter ist krank. Morgen sollst du hinaus zu ihrem Hause gehen und ihr Kuchen und Wein bringen, damit sie sich stärken kann.”

Am nächsten Morgen, noch ehe der Tag zu heiß war, machte sich das Rotkäppchen auf den Weg. Es trug einen Korb mit Kuchen und Wein. Es mußte den Weg durch den Wald nehmen. Da begegnete ihm der Wolf. Er stellte sich freundlich und fagte:”Guten Tag, Rotkäppchen! Wohin des Wegs?” …

An diesem Text sollen zwei Dinge erläutert werden:

In den ersten beiden Sätzen, die eine fortwährende Situation beschreiben – nennen wir sie Dauer und Wiederholung -, wird die einfache Vergangenheitsform gebraucht: sein, immer tragen, immer wieder nennen, gut stehen.

Fortwährende Situationen sind meistens durch die Hilfsverben wie sein, haben, werden, die Verben der sinnlichen Wahrnehmung wie hören, sehen, fühlen, und modale Hilfsverben - müssen, dürfen, sollen, können, wollen, brauchen, wissen – gekennzeichnet. Diese Verben drücken in ihrem Kern bereits Dauer und Wiederholung aus. Hinzu kommen Vollverben, die in ihrem Kontext gewöhnlich Dauer auszudrücken vermögen: gehen, kommen, lieben, denken, wissen, finden(, dass).

Auch syntaktische Strukturen vermitteln Dauer. Satzbezüge, die Gleichzeitigkeit und Fortwähren einer Situation ausdrücken, werden durch Konjunktionen hergestellt: indes, während, solange, als.

Zur Darstellung von Dauer und Wiederholung gebraucht man also im Deutschen die einfache Vergangenheit, die sich fachterminologisch zwar traditionell Imperfekt oder Präteritum nennt. Ein solcher Begriff ist jedoch eher als grammatischer Fachbegriff im Sinne eines Terminus technicus zu verstehen.

Ein zweites Beispiel für den Gebrauch dieser Zeit zeigt sich schließlich im letzten Absatz des provisorischen Märchenbeispiels, der den Ablauf der Geschichte darstellt.

Hier sind es die Verben, die ein einmaliges Geschehen beschreiben: auf den Weg machen, sich (ver)stellen, begegnen, fragen.Dabei handelt es sich um ein Geschehensablauf, für den ein Erzähltempus als grammatische Zeit dient.

Eine verbreitete Meinung lautet, das Präteritum sei ein Zeichen höheren Sprachniveaus als das Perfekt, das eher in der Umgangssprache heimisch sei. Zwar glaubt man, sich damit gewählter auszudrücken. Es kommt jedoch zu einem falschen,l statt hochsprachlichen Gebrauch. Das führt zu einem gestelzten Klang.

Stellt man die folgenden Sätze gegenüber,

Ich las gerade ein Buch, das mich sehr beeindruckt hat..
Ich habe gerade ein Buch gelesen, das mich sehr beeindruckt hat.

erkennt man, dass das Lesen hier nicht als Dauer, sondern als abgeschlossene Handlung zu verstehen ist.

Demgegenüber dient zum Ausdruck der Dauer das Imperfekt:

Ich las gerade ein Buch, als es klingelte und … Während ich las, war es ruhig um mich … Solange ich las, merkte ich nichts …

Man unterscheidet also, zwischen abgeschlossener Handlung und dauernder Tätigkeit.

Um eine Erzählung einzuleiten, greift man oft zu einer einleitenden Formulierung, die die Vergangenheitssituation markiert. Diese belässt man, weil es unmittelbarer klingt, häufig im Perfekt. Danach fährt man im Erzähltempus, dem Präteritum, fort.

Hier einige Beispiele:

- Gestern habe ich einen Ausflug in den Hafen gemacht. Ich stand auf dem Ponton, schaute nach den Möven an und wartete auf die Barkasse. …
- Gestern führte mich mein Weg ins Schanzenviertel.
Oder: Gestern habe ich einen Spaziergang durchs Schanzenviertel gemacht. Dort kaufte ich Blumen und besuchte eines der bunten Cafés. …
- Ich habe gerade eine bewegende Szene gesehen. Ein Mann stand unter der U-Bahn-Brücke und musizierte. …

[1] Mehr zu den Bedeutungen der Fachbegriffe findet sich hier: blog1.institut1 – Das grammatische Geschlecht grammatischer Termini

Gunhild Simon
Feb 10 2011

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