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Rollenbedingte Wechselfälle und weitläufige Verwandtschaften – Natürliches oder grammatisches Geschlecht?

Genus bedeutet grammatisches Geschlecht. In der deutschen Grammatik gibt es drei Genera, männlich, Maskulinum (m) sowie weiblich, Femininum (f) und sächlich, Neutrum (n). Darin stimmt die deutsche Sprache mit der lateinischen überein. Das Französische dagegen kennt lediglich das Maskulinum und das Femininum. Das Englische kommt gänzlich ohne Genus aus. In dem Artikel the kann man deutsche Artikel heraushören: der, die, das.

Das natürliche Geschlecht

Bei Personen stimmt das grammatische Geschlecht meist mit dem natürlichen Geschlecht überein, die Frau – der Mann, der König – die Königin.

Es gibt allerdings Ausnahmen. Sie können signalisieren, dass es sich um ein nicht näher bestimmbares Geschlecht handelt, wie etwa das Kind oder das Tier. Auch ein Bedeutungswandel kann zugrundeliegen und zu einer abfälligen Färbung führen, so das Weib. Ausnahmen vom natürlichen Geschlecht können auch verblasste Diminuitive sein, das Mädchen, das Mägdelein von die Maid, die Magd oder bewusst herabsetzend sein, wie die Memme, die Tunte für einen nicht rollenkonformen Mann.

Zuweisung des grammatischen Geschlechts

Allen Dingen und Gegenständen wird ein grammatisches Geschlecht zugewiesen. Es scheint zwar einerseits beliebig, andererseits kann man historisch gewachsene Sprachverwandtschaften darin erkennen. In den Begriffen der Tierwelt wird diese Beliebigkeit und grammatische Tradierung deutlich. So ist das Tier im Gegensatz zum Menschen ein grammatisches Neutrum, wie auch im Lateinischen animal, n, das (beseelte Lebe-)Wesen, oder bestia, f, franz. la bête, die Bestie, ein Wort, das im Deutschen eine negative Bedeutung hat.

Die Auffassungen des Geschlechts stimmen oft mit ihren französischen oder lateinischen Übersetzungen überein: le chien, canis, m, der Hundle lion, leo, m, der Löwe – l'éléfant, elephantus, m, der Elefant – l'âne, asinus, m, der Esel – la vache, vacca, f, die Kuh.

Freund und Nutztier des Menschen: das Pferd, ein Neutrum!

Jedoch könnten hier auch andere Wurzeln eine Rolle spielen. So heißt das Pferd lateinisch equus. Das Adjektiv aequus mit der Bedeutung »gleich« legt eine Verwandtschaft nahe und deutet auf seine landwirtschaftliche und militärische Nutzung als Gespann- und Reittier hin.

Das deutsche Wort Pferd ist genaugenommen auch eine Ableitung aus dem Lateinischen. Über mittelhochdeutsch pfert, pfärit führt es zu para-veredis, Kurierpferd auf Nebenlinien. para ist das griechische Wort neben, paredis das spätlateinische Wort für Postpferd. Es ist gallischen Ursprungs und fand, wie viele Wörter aus den römischen Provinzen, Eingang ins Lateinische. Die deutschen Wörter dagegen sind in den Hintergrund getreten, das Ross (engl. horse) gilt als gehobene Sprache. Einen abwertenden Klang hat der Gaul (franz. le cheval). Die Mähre bedeutete früher Stute, das auf frühgermanische und keltische Wurzeln für weibliches Pferd zurückgeht: mittelhochdeutsch merhe, englisch mare. So ist das männliche Pendant mittelhochdeutsch und altirisch marc, Pferd. Ein Überbleibsel davon zeigt sich noch in den Wörtern Marschall, Marstall. Das Wort ist nur noch in der verächtlichen Zusammensetzung Schindmähre gebräuchlich: der Schinder ist der Abdecker – von mittelhochdeutsch schinden, häuten, zu englisch skin, Haut.

Immen, der Inbegriff weiblichen Fleißes

Eine bemerkenswerte Verkehrung drückt sich im Deutschen bei den Bienen aus. Das sind Nutztiere, die in einem Bienenstaat zusammenleben und zusammen arbeiten. Bei staatenbildenden Insekten gibt es strenge Rollenzuweisungen. Darauf beruht ihr Erfolg als gemeinschaftliches Wesen. Allein ist ein solches Insekt nichts. Es verhungerte, obwohl es Nahrung zu beschaffen in der Lage wäre. Deshalb nennt der Bienenzüchter, der Imker, seinen Bienenstock auch der Bien. Das ist eine Einzahl für eine große Anzahl von Tieren.

Bienen durchlaufen in ihrem Leben verschiedene Phasen, die jeweils mit Aufgaben im Stock oder bei der Nahrungssuche verknüpft sind. Sie sind Arbeitsbienen und ein geschlechtliches Neutrum. Die Fortpflanzung obliegt allein der Königin. Sie legt nach einmaliger Begattung lebenslang die Eier, deren Geschlecht sie bestimmt und deren Larven von den Arbeiterinnen versorgt und herangezogen werden. Dass sie Königin werden konnte, verdankt sie nur dem Umstand einer besonderen Fütterung. Das ist das berühmte Gelée royale, ein wundersamer Hormoncocktail, der sie groß und geschlechtsfähig werden ließ. Es gibt auch einige männliche Exemplare, die bis zum Zeitpunkt des Jungfernfluges der jungen Königin gehegt und gepflegt werden. Sobald sie ihre Fortpflanzungsaufgabe erfüllt haben, sterben sie.

Während die Arbeitsbienen von ihrer Anlage her weiblichen Geschlechts, jedoch nicht fortpflanzungsfähig sind, ist die Drohne das männliche Wesen. Die Königin heißt fachsprachlich dagegen der Weisel. Dieses Kuriosum der umgekehrten Zuweisung des grammatischen anstelle des natürlichen Geschlechts beruht zweifellos auf herkömmlichen Rollenmustern zwischen Frau und Mann.

Gunhild Simon
18. Juli 2007

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