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Schwarmintelligenz - Yes, we can!

Beim Blick aus dem Fenster folgen meine Augen einem Taubenschwarm. Die Vögel fliegen dicht, aber sie berühren einander nie. Das Geschwader scheint einem vereinbarten Kurs zu folgen, seinem gemeinsamen Ziel entgegen.

Vogelschwarm

Plötzlich schwenkt es um. Alle ändern die Richtung buchstäblich im selben Augenblick. Das Signal ist für das menschliche Auge unsichtbar. Keine der Tauben jedoch verfehlt die Wendung um den Bruchteil eines Flügelschlags.

Derzeit kursiert die Nachricht von einem beunruhigenden Bienensterben. In der Fachwelt nennt es sich Colony Collapse Disorder, Völkerkollaps. [1] Orientierungslosigkeit und unerklärliche Verhaltensänderungen sind die Symtome. Sie könnten aus der Summe der Umweltbelastungen – Monokulturen, genveränderte Futterpflanzen, Nervengifte aus Pflanzenschutzmitteln wie Pestiziden – entstanden sein.

Colony Collapse Disorder - Völkerkollaps

Der mysteriöse Untergang ganzer Bienenvölker ist Ausdruck eines nicht artgerechten Missverständnisses. Das Volk verlässt zusammen mit seiner Königin den Stock. Alle Erwachsenen schwärmen gemeinsam aus und überlassen die Brut, die Jungbienen und die Vorräte dem Verfall, während sie sich ihrerseits dem Untergang preisgeben. Es versagt die gemeinsame Intelligenz “des Biens”, die dem Überleben des Volkes dient. Schwarmintelligenz - Yes, we can!

Bienenschwarm
Foto: Dieter Schütz
© dido-ob / PIXELIO

Das Bienenleben beruht auf einer nach Lebensepochen gegliederten, kastenartigen Arbeitsteilung. Darin ist sogar der Verzicht jedes einzelnen Mitglieds auf Sexualität und Fortpflanzung einbegriffen. Diese überlassen alle genetischen Schwestern ihrer Königinmutter, während sie selbst nach Ablauf einer vorbestimmten Karriere als Arbeitsbiene sterben. Staatenbildende Insekten folgen einer Schwarmintelligenz, die die materielle Existenz aller Mitglieder gewährleistet.

Schwarm – dazu die Verben schwärmen, ausschwärmen – dieses Wort ist primär mit Bienen verbunden. Das alt-, mittelhochdeutsche und englische swarm bezog sich ursprünglich auf den Bienenschwarm. Darin schwingt lautnachahmend das mittelhochdeutsche Wort surms, Gesums, Gesumme mit. Es gehört im weiten Sinn zu dem Wortfeld schwirren. Umgangssprachlich ist daraus Schwarm und schwärmen für eine oberflächliche Verehrung und Liebhaberei zu verstehen.

Fisch- und Vogelschwärme haben mit dem Bienenschwarm etwas gemeinsam. Solche Schwärme sind Tiergruppen, die in scheinbar unübersichtlichen Gemeinschaften ziehen, in Kolonien leben, brüten, Futter suchen, Brutpflege betreiben, um davon als Einzelne zu profitieren. Jedes Mitglied steht in der Gruppe dem anderen nur durch Anwesenheit und bloße Existenz bei, sodass ein Feind die Phalanx der Gemeinschaftsfront kaum durchbrechen kann. Das Sozialverhalten dient dem Prinzip “Gemeinsam sind wir stark.”

Seit dem Rücktritt des Verteidigungsministers von Guttenberg, den ein Plagiatsvorwurf und -beweis hinsichtlich seiner Dissertation zu Fall brachte, ist das Wort zum zweiten Mal in aller Munde: Schwarm, Schwarmintelligenz. [2]

Was sich hier vor unseren verblüfften Augen abspielte, war, angestoßen von einem einzigen Empörten, Zusammenschluss vieler hundert, gar tausend Netzwerker. Sie formierten sich, um ein kompaktes Werk von fast 500 Seiten Satz für Satz akribisch zu untersuchen, zu zerpflücken, zu sezieren. Jede einzelne Formulierung war auf dem Prüfstand. Was nicht standhielt, wurde gnadenlos in einer Synopse markiert. Allein wäre dies ein schier unendliches Sisiphuswerk gewesen.

Dem ersten, der zum Initiator einer nie dagegwesenen virtuellen Bewegung wurde, ging es dabei zunächst nicht um Vollständigkeit, sondern um den exemplarischen Beweis des Plagiierens, die Dingfestmachung. Das hätte auch im kleinen Maßstab gelingen können. Es bestand jedoch die Gefahr, der gegnerseits erhoffte Effekt, dass im Verlauf der Zeit Gras über den Skandal wüchse.

Unter der Zusammenarbeit der WikiPlag-Gemeinde aber wurden die Beweise in atemberaubender Tempo erdrückend. Unausweichlich für den Überführten. Erdrückend und unausweichlich schließlich für die, die für die Arbeit einstanden. Für die Beteiligten und die Universität selbst ein Grund zur inneren Einkehr, schließlich zur expliziten Distanzierung von der mit den höchsten Meriten – “summa cum laude” – ausgezeichneten Promotionsschrift. Dabei ist diese unübertreffliche Auszeichnung nach “cum laude” und”magna cum laude” ein Prädikat, das einem Griff zu den Sternen gleichkommt.

Der Doktortitel ist in die Kritik gekommen.

Gerade ist der Sportmediziner, Prof. Dr. Dickhut an der Universität Freiburg, zurückgetreten. Seine Habilitationsschrift bestehe, so lautet der Vorwurf, zu Teilen aus Dissertationen junger Wissenschaftler, die an seinem Institut arbeiteten. Auf einer Kennzeichnung hatten die Geschädigten nicht bestanden, weil sie fürchteten, die Gunst ihres Chef zu verlieren.

Einem Sohn Gaddafis war in England die Doktorwürde verliehen worden, nachdem eine beträchtliche Zuwendung aus Libyen der Universität zugeflossen war. Nun denkt die Alma mater darüber nach, welche Folgen dies für ihren Ruf als der Unabhängigkeit der Wissenschaft verpflichtete Institution hat.

Guttenberg hatte nach einem durchschnittlichen juristischen 1. Staatsexamamen nur auf Antrag und Fürsprache seines Doktorvaters, des mittlerweile emeritierten Peter Häberle, eines renommierten Staatsrechtlers, die Genehmigung zur Promotion erhalten. Eine Ausnahmegenehmigung, denn üblicherweise wird nur Absolventen mit einem Prädikatsexamen der Antrag auf ein Doktorat gewährt. Die Doktoranden unterstreichen damit ihr Ziel, am Institut zu arbeiten und eine wissenschaftliche Karriere anzustreben. Guttenberg hat seine Dissertation jenseits dieser Hochschulanbindung und wissenschaftlichen Zuarbeit eines normalen Promovenden gemacht. Ein Umstand, der unter Wissenschaftlern kritisch gesehen wird. Auch sein Antrag, den begehrten Titel vorzeitig, d. h. vor Veröffentlichung der Promotionsschrift, führen zu dürfen, warf ein ungünstiges Licht auf den frischpromomierten Karrierepolitiker. Inzwischen wurde die Frage nach dem Lektorat des in juristischen Kreisen gutbeleumundeten Verlags laut. Auch Zuwendungen aus einer Stiftung, in deren Vorstand Guttenberg saß, ließen Zweifel an der Integrität der Universität Bayreuth aufkommen.

Diese Summe von Ungereimtheiten machte ein Heer von Intellektuellen mobil, weil sie sich als Wissenschaftler missachtet fühlten. [3]

Diese spontane Vernetzung, die sich nur einem gemeinsamen Interesse verdankte, das einzig für diesen Zweck bestand, ist ein Novum. Es entstand ein Netzwerk, das erstmals in Deutschland in diesem aufsehenerregenden Umfang kooperierte. Es erwuchs aus keinerlei persönlicher Bekanntschaft oder Verpflichtung, es war freiwillig und unbezahlt. Es hat diejenigen, die daran mitgeknüpft haben, mit einer nie dagegewesenen Leidenschaft ergriffen. Es gab kein arbeitstechnisches Vorher oder Nachher einer Projektgruppe, sondern eine rein virtuelle Kommunikation beschränkte sich inhaltlich nur auf den Aspekt des Wiki, einer netzgestützten Aufdeckung. Es taten sich Netzspezialisten aus der intellektuellen-, der Informatik- und der Hochschulszene zusammen, die entweder dem Wertverfall der Promotion entgegentreten oder ihre Kenntnisse moralisch und sinnvoll einsetzen und zur Geltung bringen wollten.

Ein Fall menschlicher Schwarmintelligenz. Es ging um den Ruf eines akademischen Titels als Ausweis für die Fähigkeit zu wissenschaftlicher Arbeit, Voraussetzung für eine Wissenschaftskarriere. Diese beispiellose Zusammenarbeit, die bereits Züge von Besessenheit und Verselbständigung zu gewinnen begann, ist als Warnung zu verstehen, gerichtet an die Adresse aller mit dem leichtgewichtigen Plagiat Liebäugelnden, die den Glanz einer nur unter Entbehrungen erreichbaren Auszeichnung brauchen, um persönliche Eitelkeit zu stillen.

Die Latte bei Promotionen dürfte in Zukunft höher liegen.

[1] Wikipedia Colony Collapse Disorder

[2] In seinem Roman “Der Schwarm” entwirft Frank Schätzing ein Szenarium von der “Existenz einer Spezies von kollektiv bewussten und intelligenten Einzelwesen” (Wikipedia). Diese Idee des Kollektivbewusstseins verkörpert sich in dem Begriff Schwarmintelligenz.

[3] In einem Kommentar der ZEIT werden die Auswirkungen und Hintergründe der Affäre beleuchtet. http://www.zeit.de/politik/deutschla…ritt-kommentar

Anhang
Worterklärungen rund um den Doktorgrad:

Dissertation = wissenschaftliche Arbeit, Doktorarbeit
Doktorand = Wissenschaftler, der an der Dissertation arbeitet
Promotion = Akt der Universität, die den Wissenschaftler aufgrund seiner Promotiosschrift und einer mündlichen Prüfung zum Doktor macht.
Promovend = Wissenschaftler, der aus der Sicht der Fakultät, würdig befunden ist, zu promoviert zu werden.
promovieren, promoviert werden = die Fakultät promoviert den Kandidaten, der seinerseits promoviert wird. Ist das Promotionsverfahren abgeschlossen, erhält der Wissenschaftler den Doktortitel.

Das Verfahren ist die Promotion, die Arbeit ist die Dissertation oder Promotionsschrift, der Abschluss ist der Doktortitel.

Um den Doktortitel zu erlangen, der in Deutschland ein im Pass eingetragener Namenszusatz ist, fertigt man eine wissenschaftliche Forschungsarbeit, eine Dissertation, an. Diese war früher wie das Diplom oder der Magister, ein eigner universitärer Abschluss.

Inzwischen ist der Dr. vor dem Namen ein zusätzlicher, nach außen sichtbarer Titel, der allerdings in einigen Disziplinen eine Selbstverständlichkeit ist. 70% der Mediziner und 72% der Chemiker schließen damit zusätzlich ab.

Gunhild Simon
16. März 2011

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