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Stil, Stiel und Griffel

Stil ist in vielen Lebensbereichen gültig.

Der Stil des Umgangs sagt etwas aus über Anstand, Benehmen, Etikette, Manieren und Gesittung. Als künstlerische Kategorie ist Stil die Art, Fasson und Formgebung. Im Sport bezieht er sich auf die Bewegungstechnik. In der Rhetorik und der Literatur beschreibt Stil die Sprachebene – Ausdrucksweise und Diktion. Als Charakterisierung des Lebensstils bezeichnet er Klasse und Lebensart.

Dazu gibt es das homophone Wort Stiel. Zur Unterscheidung spricht man das Fremdwort Stil distinkt aus: S-til.

Stiel meint figürlich einen langen Stengel wie den Blütenstengel oder den Griffl eines Werkzeugs, eines Hammers, Besens oder Löffels.

In der Blüte, die in der Regel männliche und weiblche Fortpflanzungsorgane gleichzeitig enthält, ist der Stempel das weibliche Geschlechtsorgan. Eines seiner Teile nennt sich Griffel. Hier beschreibt Griffel die Form des Stempels, der wie ein langer Stiel die klebrige Narbe trägt, die bei der Bestäubung den Pollen, die männlichen Samenzellen, aufnimmt, um sie zum Fruchtknoten gelangen zu lassen. [1]

An der typischen Dehnung zu /ie/ gibt sich Stiel zunächst als deutsches Wort zu erkennen. Das andere – Stil – ist ein Fremdwort. Im Französischen ist es le style, im Englischen style. Aus der Bedeutung des lateinischen Wortes stilus lässt sich eine ursprünglche Identität beider ablesen. Stilus heißt Stiel, Stengel, Griffel. Also ist auch dies ein Lehnwort.

Ursprünglich beschreibt stilus einen spitzen Griffel, mit dem in eine Wachstafel geritzt wird. In Griffel lässt sich unschwer “greifen” erkennen. In greifen und Griff fallen die die althochdeutsche Form grifan, greifen und grif, englisch grip, formal zusammen mit althochdeutsch graf, das aus dem Lateinischen graphium, Schreibgerät stammt. Diese Bezeichnung ist seinerseits ein griechisches Lehnwort aus grapheion. Beiden zugrunde liegt graphein, schreiben. Damit zusammen hängen die Bleistiftmine aus Graphit und die zeichnerischen Techniken, die in Grafik und Graffitti ausgedrückt werden.

Eigentlich müsste man, um im gebildeten Duktus zu bleiben, lateinische Fremdwörter, die ein /st/ oder /sp/ enthalten, immer lautlich voneinander abgegrenzt /s-t/ und /s-p/, aussprechen. Sehr alltägliche Fremdwörter klingen aber dadurch geschraubt, abgehoben [S-tudium, S-tudent, s-tabil], andere wirken bewusst verweigernd [Konschtruktion, Schtatus], oder dialektgefärbt [Demonschtration, Konschtellation]. Bei [Schtiel] und [S-til] scheint es mir angebracht, durch die unterschiedliche Aussprache ein Differenzierungsmerkmal zu übermitteln.

Wie die dem Original angenäherte Aussprache eines Fremdwortes empfunden wird, hängt offenbar von mehreren Faktoren ab: von der Geläufigkeit, der allgemeinen Akzeptanz und der Wahrnehmung als Fachvokabel. Je stärker das Gewicht auf der fachlichen oder wissenschaftlichen Auslegung liegt, desto näher wird auch die Schreibung dem Ursprungswort angeglichen bleiben, z. B. Seismograph und Grafiker.

[1] Tecfa: Der Bau der Blüte

Gunhild Simon
Okt 02 2010

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