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Vom Steigen und Sinken

Unter steigen versteht man im weitesten Sinn etwas, das mit aufwärts oder abwärts zu tun hat. [1] Dabei stellt man sich zunächst ein Lebewesen vor, das diese Bewegungen ausführt.

Folglich erklimmt man einen Berg, eine Leiter, Treppe, Stiege, indem man hinaufsteigt. In der umgekehrten Richtung steigt man hinab.

Auch Unbelebtes wird mit diesen Merkmalen versehen: Ein Berg, ein Hügel, eine Treppe steigt an. Ein Flugzeug, ein Ballon, ein Vogel, ein Stern, eine Wolke, Nebel, Rauch, Duft, übertragen ein Verdacht, ein Gefühl oder eine Empfindung steigt auf.

Um das Gegenteil auszudrücken, weicht man auf andere Formulierungen aus. Der Berghang fällt ab. Die Stufen führen in ein Kellergemach. Der Stern sinkt, die Feder schwebt nieder, das Gefühl verflüchtigt sich, der Verdacht löst sich auf.

Aber steigen diese auch herab oder hernieder? In gehobener, bildhafter Sprache ist das Niedersteigen angesiedelt: Der Gottessohn steigt auf die Erde nieder, auf einer Wolke steigt Apollo nieder auf die Opernbühne, “Gelassen stieg die Nacht ans Land”(Mörike) und “der Fischer” wird so verlockt: “… du stiegst herunter, wie du bist, und würdest erst gesund.” (Goethe). Der Tod ist in der Tiefe angesiedelt. So bekennen die Christen:”…, hinabgestiegen in das Reich des Todes,”. [2]

Die Stimme steigt in die Höhe. Das Blut steigt ins Gesicht. Das Wasser steigt, selbst der Himmel steigt, als Ausdruck der Klärung. Wolken steigen, die Lerche, der Drachen steigt in die Höhe, der Fisch, die Luftblase steigt an die Oberfläche, das Barometer, das Fieber, der Preis steigt. Der technische Begriff Steigeleitung bezeichnet eine Stromleitung nach oben. Metaphorisch steigt die Wut, das Glück, die Liebe.

In all dem drückt sich eine Aufwärtsbewegung aus.

Das Gegenteil wird oft durch “sinken” oder “fallen” ausgedrückt. Die Sonne sinkt [3], das Fieber, die Temperatur, der Luftdruck sinkt oder fällt, die Nacht, die Dämmerung, der Nebel fällt.

Ursprünglich bedeutete “steigen” gehen, schreiten. Das drückt sich noch in dem Wort nachsteigen, verfolgen, aus. Der Jäger steigt dem Wild nach. Der Bursche steigt dem Mädchen nach. Nachsteigen, ist nachgehen, umwerben, angezogen sein. Dazu gehören die Substantive die Steige und Stiege, der Steig, Stieg und Steg.

Ins Bett, ins Fenster, in den Keller, ins Bad, ins Wasser, in den See, die Flut zu steigen ist mit dem Bild des Aufhebens der Beine verbunden. Es ist gleichsam die Überwindung eines Hindernisses

Bei Thomas Mann hingegen “steigen die Marmorstufen in die Flut”. [4] Es ist das Bild der Badenden, die ins Wasser steigt. Hätte man hier nicht “führen” oder “gehen” erwartet? Aber das hat der Dichter wohl bewusst als zu schwach verworfen. Senken sie sich nicht ins Wasser? Versinken sie nicht eher darin, als dass sie hineinsteigen? Thomas Mann reizt unsere Einbildung wohl absichtlich, um vor dem inneren Auge den wasserumspülten Fuß einer venezianischen Treppe aufsteigen zu lassen.

[1] Steigen: Mit dem Stamm- und Grundbegriffe der Höhe. Im weitesten Verstande, auf Stufen gehen, es sey nun hinaufwärts oder hinabwärts, und in noch weiterer Bedeutung, hinauf oder hinab schreiten oder gehen, so daß die Richtung allemal durch ein Vor- oder Nebenwort bezeichnet wird. (J. C. Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch)
Adelung – Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart – Steigen

[2] “… hinabgestiegen in das Reich des Todes, am dritten Tage auferstanden von den Toten; aufgefahren in den Himmel…” (aus dem apostolischen Glaubensbekenntnis)
[3] “… [er] hatte von dort bei sinkender Sonne seinen Heimweg … genommen” (aus Thomas Mann: Der Tod in Venedig, 1. Kapitel)

[4] “Die Marmorstufen einer Kirche stiegen in die Flut; …” (aus Thomas Mann: Der Tod in Venedig, 5. Kap.)

Gunhild Simon
Mrz 14 2010

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