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Wespennest – Vespula saxonica

Ich traute meinen Augen nicht!
War es doch die Lüftung des Geheimnisses, zugleich die Lösung der Frage und die Klärung der Anmutung, die meinen Sinn zuweilen flüchtig gestreift hatten.

Kaum nämlich hatte ich mein Tablett auf dem eisernen Balkontisch abgesetzt, befand ich mich in Gesellschaft eines wie aus dem Nichts aufgetauchten Wespenschwarms.

Wespen im Mai? Wespen im Juni?

Woher wussten sie so schnell über mein Frühstück Bescheid? Warum interessierten sie sich jedoch trotzdem nicht für das Nahrungsangebot? Keine Kundschafterin hatte Kostproben gesammelt, um eine vielköpfige Nachhut, über die Quelle von Milch und Honig unterrichtet, auszusenden.

Angesichts der Aussonderung einer mehltauverseuchten, in ihrer Widerstandsschwäche von einer wahren Invasion grüner Blattläuse eroberten Rose sah ich mich gezwungen, das Eisentischlein zu verrücken, ja sogar die lose aufliegende Tischplatte abzunehmen. Zum Vorschein kam ein Wespennest, das nun – ungeschützt und ungedeckt, dazu einer empfindlichen Erschütterung ausgesetzt – von seinen alarmierten Insassen umschwirrt wurde.

Das kaum faustgroße Gebilde hängt befestigt an den obersten Streben des Tischgestells. Es ist aus einem Material gefertigt, das die Wespen aus zu Brei zerkautem und mit Speichel vermengtem Totholz herstellen. Das Einflugloch befindet sich gleich einem kleinen Krater am untersten Punkt des rundlich-zapfenförmigen, papiernen Gebildes, das mit einem kuppelartig überlappenden Dach und umlaufend gemaserten Schichten an einen transparenten Lampion erinnert. [1]

Dieser Art des Nestbaus verdanken Wespen ihren Namen. Er hat eine indogermanische Wurzel, die auf das Verb weben zurückgeht. Eine Verwandtschaft der Bezeichnungen lässt sich an Bezeichnungen anderer Sprachen erkennen: mittelhochdeutsch wespe, niederländisch wesp, englisch wasp, dänisch hveps, lateinisch vespula, italienisch vespa, französisch gueppe.

Wie andere brutpflegende Tiere suchen Wespen für ihre Nester sichere Plätze – ruhig, wettergeschützt, hochgelegen – dem Zugriff von Feinden entzogen: Mauerritzen, Baumhöhlen, Astgabeln, ausgediente Regenrohre, Hohlräume unter Dachziegeln und ungestörte Winkel von Dachböden. Im zeitigen Frühjahr verlässt die Königin ihr verstecktes Winterquartier, um sich auf die Suche nach einem Nistplatz zu machen. An einem so geschützten Ort legt sie das “Fundament” ihres Nestes an, indem sie zunächst eine Kuppel anheftet, unter deren Wölbung die ersten sechsseitigen Zellen einer Wabe sich um eine vertikale, zylindrische Achse gruppieren. Hier zieht sie selbst die erste Wespengeneration groß.

Sobald die Brut herangewachsen ist, löst diese Generation junger Arbeiterinnen die Königin in der Fürsorge für Brut und Bau ab. Die Königin hütet von nun an das Nest – beschäftigt damit, für immer neue Nachkommenschaft zu sorgen. Die dafür nötige Befruchtung liegt schon weit zurück – im vergangenen Jahr. Sie trägt seither das Sperma in einer Samentasche und verwendet es scheinbar “nach Belieben” – instinktgesteuert. Befruchtete Eier reifen zu Arbeiterinnen, einige wenige davon zu neuen Königinnen. Arbeiterinnen sind eigentlich vollwertige Weibchen, deren Eierstöcke durch Hormonabsonderungen der erwachsenen Königin in Form von Pheromonen, Duftstoffen, an der Ausreifung gehindert werden. Nur die unbefruchteten, die mit einem nur haploiden – hälftigen – Chromosomensatz versehenen, werden zu Wespen”drohnen”, also männlichen Exemplaren.

Unterdessen kümmern sich die jungen Arbeiterinnen wie bei anderen staatenbildenden Insekten arbeitsteilig um die Aufgaben, die sich rund um den Wespenstaat stellen: Im Innern des kleinen grauen Zapfens befinden sich jetzt schon bis zu sechs Waben, in deren Zellen die Brut zu pflegen ist, und dessen Äußeres instandzuhalten ist.

Nun stand ich vor der Frage, was zu tun sei. Ich kannte zwar verlassene, ausgediente Wespennester aus meiner Kindheit. Auch schienen sie mir in meiner Erinnerung viel größer, so dass ich einen weiteren Ausbau befürchtete. Ich recherchierte online und sah geradezu monströse Exemplare von Nestern, las von Beständen um 3000 hochaggressiver Arbeiterinnen und allerlei Beseitigungstipps zwischen Ausräuchern und Umsiedeln.

Mein Herz sank. Die Balkontür blieb geschlossen. Das Gießen der Blumen wurde mit äußerster Vorsicht verrichtet. Die Feuerwehr verwies mich an die Umweltbehörde, diese an einen Wespenfachmann.

Dieser “Wespenimker” klärte mich über die Wespenart auf, die man an der Struktur des Nests erkennen kann: Es handelt sich demnach um die Dolichovespula saxonica, die sächsische Wespe [2], deren Nest in dieser kleinen rundlichen Form verbleibt. Der ganze Bestand wird nicht über etwa 250 Exemplare pro Volk anwachsen. Das Volk ist nur bis in den August aktiv. Die Art verhält sich weder aggressiv noch lästig.

Die untereinander ähnlichen Wespenarten lassen sich am Kopfschild unterscheiden. Meine zu Schützlingen erhobenen Sommergäste entziehen sich zum Glück einer direkten Beobachtung. Denn sie interessieren sich weder kostend, noch Kostproben einsammelnd für menschliche Nahrung wie die “dreiste” Gemeine Wespe, Vespula vulgaris, die volkstümlich “Pflaumenkuchenwespe” heißt. [3]

Sitzt man also still bei ihrem versteckten Bauwerk, verhalten sich die kleinen Sächsinnen so, als zähle man zum Balkoninventar. Selbst die unvermeidlichen vier Stiche, meiner Ahnungslosigkeit geschuldet, fielen erträglicher aus als die anderer Insekten. Nach anfänglicher Gänsehaut, die sich wie eine allergische Reaktion anfühlte, blieb nur wenig an Rötung, Schwellung, Schmerz und Juckreiz zurück.

Angesichts einer artgerechten, fachmännischen, naturgemäß teuren und für das Wespenvolk verlustreichen und irritierenden Umsiedlung habe ich mich also zu Duldung und Koexistenz entschlossen. Diese Wespenart ist ihrerseits nicht nur friedlich, sondern man zählt sie aus menschlicher Sicht sogar zu den Nützlingen, die Blattläuse und Milben zur Versorgung ihrer Brut jagen, während sie auf Zucker- und Eiweißhaltiges aus dem menschlichen Nahrungsangebot verzichten.

Das Frühstück auf dem Balkon, das ich in Gesellschaft einer Vielzahl in den duftenden Glyzinienblüten brummender Hummeln und meiner nun entlarvten Wespenpension zu mir nehme, muss sich fortan in sehr erschütterungsfreien Bahnen abspielen. Ein verrückter Tisch stürzte die Wespen in existentielle Ängste. Schon eine geringfügige Veränderung seines Standortes führt zu Panik, weil sie das Ziel verfehlten.

Während sich immer wieder eine unachtsame Hummel ziellos in meine Wohnung verirrt und vorsorglich hinausgeleitet werden muss, fliegen die Wespen, solange es das Licht erlaubt, einem geheimnisvoll programmierten Kurs folgend auf ihrer Flugschneise durch die Geländerschnörkel ein und aus.

[1] Die Welt der kleinen Krabbeltiere

[2] “… zu den Langkopfwespen zählt die häufig im Siedlungsbereich (Dachböden, Scheunen usw.) nistende (aber niemals lästig fallende) Sächsische Wespe (Dolichovespula saxonica). Ihre Nester fallen deshalb leider oft völlig unnötigerweise Wespen-’Säuberungsaktionen’ zum Opfer. Als Gesichtszeichnung (auf dem Bild nicht zu sehen) trägt sie eine recht variable, oft nicht durch weitere Linien mit dem Gesichtsrand verbundene ‘W’- oder Ankerzeichnung, manchmal auch nur eine verdickte Linie wie die Norwegische Wespe. Der Hinterleib ist oft recht dunkel. Allgemein wirkt diese Art gegenüber den Gemeinen und Deutschen Wespen zierlich und wird oft auch nicht sehr groß.”
(vergl.: Die Sozialen Faltenwespen)

[3] Und hier noch ein Verweis auf einen Artikel, den ich früher zum Leben von Wespen verfasst habe:
blog.institut1: Wespen im Spätsommer

Gunhild Simon
Jun 10 2010

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