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Wohnungstiger

Als ich am Abend nach Hause kam, lag unter dem Küchentisch ein undefinierbares kleines Bündel. Bei genauerem Hinschauen erwies es sich als toter Vogel.

Daran wäre nichts Bemerkenswertes, wohnte ich nicht im vierten Stock. Balkone nach Osten und Westen. Und mit Katzen, die Zeit ihres Lebens - jedenfalls seit ihrer Umsiedlung aus bäuerlichen Ställen - ein dosengefüttertes, müßiges Leben führen dürfen.

Um Beute zu simulieren, wird ein gewisses Transportgummiband immer wieder irgendwo aus einer dunklen Ecke geklaubt und erhobenen Kopfes und mit kehligem Maunzen durch die Wohnung getragen. Das ist der Schrei, mit dem Katzenmütter ihre heranwachsende Brut herbeirufen, um sie den Tötungsbiss zu lehren. Nur dafür werden die Mäuse scheinbar grausam “totgespielt”.

Ich fragte mich, warum dieser Vogel dagegen unbeachtet auf dem Boden abgelegt worden war. Ich fragte mich noch dringlicher, wie es der Katze gelingen konnte, ihn zu erbeuten, ohne vom Balkon zu stürzen.

Es war eine Meise, das konnte ich an den blauen Federn sehen. Aber zu mehr konnte ich mich vorerst nicht aufraffen. Der Tod ist mir entfremdet.

Als Kind habe ich Hühner gerupft, ausgenommen und aufgegessen, die ich zuvor zum Füttern gelockt, deren Eier ich gesucht hatte, in deren warmen staubig-muffigen Stall ich mich manchmal verkroch. Ich habe gesehen, wie niedliche gelbe Federbällchen sich piepend unter einer Rotlichtlampe in einem improvisierten Gehege in unserem Keller zusammendrängten und sich über gehackte Kräuter und gekochte Eier hermachten. Als sie zu Hähnchen herangewachsen waren, wurden sie am Spieß gegrillt, bräunten und dufteten verlockend. Das fand ich ganz in Ordnung.

Nur beim Schlachten floh ich, um nicht das panische Flattern der schon betäubten Körper, die Schreie zu hören und das Blut auf dem Hackklotz hinter dem Haus fließen zu sehen.

Wenn die Katze ein junges Kaninchen erlegt hatte, nahm ich es ihr ab und häutete es. Wenn von verspeisten Mäusen noch der obligatorische Rest, die ungenießbare Galle, feinsäuberlich auf dem Teppich zurückgelassen lag, hob ich ihn auf. Manchem verschmähten Vögelchen habe ich ein Grab geschaufelt, mit Gänseblümchen bepflanzt und ein kleines Kreuz aus Zweigen verknüpft aufgestellt.

Nun war ich ganz hilflos beim Anblick der verrenkten Vogelleiche.

Mein Sohn kam nach Hause, beugte er sich zu dem Tier hinab. Es lebte noch. Da ging ich hinaus.

Man dürfe das Tier nicht leiden lassen. Deshalb habe er ihm das Genick gebrochen.

Da erkannte ich, dass der sensible kleine Junge, dem schon bei der Erwähnung verstorbener Katzen Tränen in den Augen standen, ein junger Mann, ein Erwachsener, geworden ist.

Andere müssen in seinem Alter Soldat werden.

Gunhild Simon
31.08.2008

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