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Zinken und Zinnen

Zinken sind spitze, scharfgezackte Kanten. Es sind Zacken oder Spitzen auf einer Mauer oder einem Zaun. Das kommt genau besehen auch in ihren nächsten Wortverwandten, den Zinnen zum Ausdruck.

Zinnen sind nicht unbedingt die obersten Ziegel des Dachfirsts, sondern sie befinden sich vornehmlich als Abschluss auf Fassaden, Türmen oder Brüstungen, auf Palästen und Festungen altertümlicher Gemäuer. [1] Die höchsten Zinnen sind die zahnartig aufstrebenden, weithin dräuenden Mauerwerke. Sie waren für Deckung bestimmt, die Lücken dienten als Schießscharten.

Beide, die Zinke – oder der Zinken – und die Zinne haben einen gemeinsamen mittelhochdeutschen Kern, zint, das untergegangene Substantiv Zind, Zahn, Zacke. Eine Verknüpfung zeigt sich in der Wortherkunft des Metalls Zink, dessen Destillat sich zackenförmig an den Wänden des Schmelzofens absetzt.

Zinken sind auch Gaunerzeichen. Sie sind als scheinbar ungelenke Einkerbungen Schriftzeichen der Geheimsprache [2], die man auf der lautlichen Ebene Rotwelsch nennt. Rotwelsch basiert auf Anleihen aus der Zigeunersprache und dem Hebräischen. Daher sind viele Wörter dem Jiddischen entlehnt, manche gehen auf das Altindische zurück. Das Rotwelsch ist ein Argot, eine Sondersprache, deren Grammatik wie die des Jiddischen auf der deutschen beruht und deren Parallelwortschatz der deutschen Morphologie angeglichen ist. Rotwelsch ist die Sprache gesellschaftlich Ausgegrenzter, Unangepasster, des fahrenden Volkes, der Landstreicher, Vaganten, Kesselflicker, Gauner, Bettler und Hausierer. Diese Bevölkerungsgruppe genoss als standloser Stand einen unguten Ruf in der sesshaften Bevölkerung und wurde misstrauisch behandelt. Ihrerseits pflegte sie zum eigenen Schutz und unerkannten Agieren eine für andere nicht unmittelbar durchschaubare, ungestörte Verständigung. [3]

Das Wort Rotwelsch selbst ist schwer zu übersetzen. Es enthält zwei Anteile, die Hinweise auf seine Bedeutung geben. Rot hat die Nebenbedeutung falsch, ebenso könnte darin Rotte, betrügerische, bösartige Bande, verborgen sein. Mittelniederländisch ist rot faul, enthalten in dem deutschen Verb verrotten, verfaulen. Welsch, enthalten in Kauderwelsch, Unverständliches, ist ein abschätziges Wort für Französisch. Rot walsch bedeutete im Mittelniederländischen “dreckiges Französisch”. Rotwelsch heißt also annähernd “betrügerische Rede”.

Diese Sprache datiert aus dem 13. Jahrhundert. Im 16. Jahrhundert wurde von Mordbrenner- und Räuberbanden eine ähnliche Zeichensprache verwendet, um sich über günstige Daten auszutauschen. Dazu gehören neben eigenen Wörtern hieroglyphenartige Zeichen, bildliche Symbole, mimische Signale, die sich dem Uneingeweihten nicht unmittelbar erschließen.

Zinken, also vornehmlich figürliche grafische Zeichen, Einritzungen an Türen, Briefkästen, Zäunen, Klingelschildern sind oft von vorausgeschickten Kundschaftern hinterlassen worden. Sie geben Auskunft über den Ertrag und die Bewohner eines Objekts, Besonderheiten, Gewohnheiten, Absicherungen und Zugänglichkeiten. So bedeutet etwa eine Zackenlinie “Bissiger Hund”, ein auf den Kopf gestellter Tisch “Alte”, zwei nebeneinander stehende Kreise “alleinstehende Frau”, kurze senkrechte Striche “Kinder”. [4]

Gezinkte Karten sind Spielkarten, die durch geringfügige Spuren – winzige Ritzen, Risse, Kerben – gekennzeichnet sind und daher den Spielverlauf steuern lassen.

Neben den grafischen Zeichen spielten im direkten Kontakt mimische und gestische Zeichen eine Rolle. Kenzeichen, Erkennungszeichen durch Grimassen, und Jadzeichen, Hand- und Fingerzeichen. Hier wird eine Verbindung zum Jiddischen sichtbar: jad, hebräisch, bedeutet Hand.

Eine besondere Art der Kennzeichnung sind die Schlichnerzeichen. In Schlichner steckt schleichen, es ist einer, dem man “auf die Schliche gekommen” ist. Es ist ein Zinker, ein Verräter.

Um die Ermordung eines Verräters, wie noch bis zum 19. Jahrhundert üblich, zu umgehen und den Verräter dennoch auszugrenzen, gab es Schlichnerzeichen, Schnitte im Gesicht, die ihn für Eingeweihte sichtlich markierten. Das Schimpfwort “Schlitzohr” bringt diese Kennzeichnung zum Ausdruck.

[1] “Wachet auf!” ruft uns die Stimme der Wächter sehr hoch auf der Zinne, EG 147
Er stand auf seines Daches Zinnen … (Friedrich Schiller: Der Ring des Polykrates)

[2] ORF.at – KRIMINALITÄT

[3] detlev-mahnert.de – SPRACHE / Rotwelsch

[4] Code-Knacker: GAUNERZINKEN – ROTWELSCH

Gunhild Simon
Aug 06 2010

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